Raumfahrt "So unentdeckt und doch so zum Greifen nah"
Vor zehn Jahren flog ESA-Astronaut Alexander Gerst zum ersten Mal zur Internationalen Raumstation ISS. Im Interview mit tagesschau.de erinnert er sich an den ersten Start - und gibt einen Ausblick auf die geplanten Mondmissionen.
tagesschau.de: Vor genau zehn Jahren sind Sie zum ersten Mal zur ISS geflogen. Waren Sie aufgeregt?
Alexander Gerst: Als Astronaut hat man vor dem ersten Flug die größte Sorge, dass etwas dazwischenkommt, dass man krank wird oder ein technisches Problem an der Rakete auftritt. Je näher man dem Start kommt, desto kleiner ist statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Problem auftritt.
Der beruhigenste Moment im Leben eines Astronauten ist also tatsächlich, wenn man die Triebwerke spürt und es losgeht. Was mich beim ersten Start irritiert hat: Beim Training im Simulator gehen dauernd rote Lampen an, es bimmelt, brennt oder Luft tritt aus. Im richtigen Vehikel ist das zum Glück nicht passiert. Alles blieb grün, alles hat funktioniert. Das war erst mal "komisch", weil es ungewohnt war.
tagesschau.de: In den nächsten Jahren sollen ja mit den "Artemis"-Missionen der Amerikaner wieder Menschen zum Mond fliegen. Was können Astronauten auf dem Mond besser erforschen als Sonden und Rover?
Gerst: Exploration - also die Erforschung des Weltraums - kann letztendlich nur in Synergie, als Zusammenarbeit zwischen Menschen und Robotersonden, stattfinden. Wir haben Robotersonden, die schicken wir als Vorhut, um erst mal Daten zu sammeln und zu schauen, ob Menschen dort leben und arbeiten können. Das passiert gerade auf dem Mars, das hat auch auf dem Mond bereits funktioniert. Aber um dann effizient arbeiten zu können, müssen wir als Forschende schon selbst hin. Menschen können sehr viel flexibler auf Situationen reagieren, die unvorhergesehen sind.
Der Astronaut ist seit 2009 Mitglied des ESA-Astronautenkorps. 2014 und 2018 flog er an Bord einer russischen Sojus-Rakete zur Internationalen Raumstation ISS, wo er jeweils mehrere Monate blieb und zahlreiche Experimente durchführte. Bei seinem zweiten Aufenthalt war er zugleich Kommandeur der ISS. Gerst wurde 1976 in Künzelsau geboren und ist Geophysiker und Vulkanologe.
"Müssen den Kosmos um uns herum verstehen"
tagesschau.de: Seit 1961 gibt es die bemannte Raumfahrt. Wo stehen wir jetzt?
Gerst: Wenn wir jetzt zum Mond fliegen, dann wird tatsächlich ein völlig neues Kapitel der Astronautik aufgeschlagen. Wir Menschen sind inzwischen seit einigen Jahrzehnten im niedrigen Erdorbit aktiv. Wir haben gelernt, wie wir im Weltraum leben und arbeiten können, jetzt ist der Mond nachhaltig in unserer Reichweite, nicht mehr nur als "giant leap".
Wir sagen, aus meiner Sicht zu Recht, das ist der achte Kontinent unseres Planeten. Er ist wahrscheinlich aus unserem Planeten heraus entstanden. So genau wissen wir das noch nicht. Wir als Menschheit - als Inselvolk im Kosmos - haben die berechtigte Sorge, dass von draußen auch Gefahren auf uns einwirken. Und deswegen müssen wir dieses "Meer", diesen Kosmos um uns herum, verstehen. Und der erste Schritt dazu ist die Erforschung des Mondes.
tagesschau.de: Die Idee ist jetzt, zum Mond zu fliegen und dort längere Zeit zu leben und zu arbeiten, anders als bei den "Apollo"-Missionen der sechziger und siebziger Jahre. Was bedeutet das?
Gerst: Die geplanten Mondmissionen sind komplex, mit vielen logistischen Schritten. Man muss dort landen und ist auf dem Mond durch dessen Gravitation gefangen. Die Umgebung ist lebensfeindlich, mit Temperaturen weit unter minus 100 Grad auf der Nachtseite und weit über 100 Grad auf der Tagseite, dazu Weltraumstrahlung und Vakuum. Wir haben auf der ISS gelernt, mit der Schwerelosigkeit umzugehen und im Weltraum zu leben.
Es folgt der nächste logische Schritt. Jetzt fliegen wir zum Mond, um nachhaltig Wissenschaft zu betreiben. Wir steuern die Polregionen an, dafür waren die "Apollo"-Missionen schlichtweg nicht geeignet. Am Südpol gibt es interessante Dinge zu erforschen - und gefrorenes Wasser, um uns zu versorgen. Dazu ist die internationale Kooperation, die wir haben, immens wichtig. Die "Apollo"-Missionen waren nationale Missionen der USA. Damals ist ein Vehikel gelandet, die Astronauten sind ausgestiegen, haben ein paar Steine mitgenommen und sind wieder zurückgeflogen. Auch das hat völlig neue Erkenntnisse über unsere Entstehungsgeschichte geliefert, aber nichts im Vergleich dazu, was wir noch lernen müssen.
"Werden permanente Forschungsstation etablieren"
tagesschau.de: Wie wird es in einigen Jahrzehnten auf dem Mond aussehen? Leben dort Menschen in Habitaten und fahren mit modernen Rovern durchs Gelände?
Gerst: Wenn man voraussagen möchte, wie es in 20, 30 oder 40 Jahren auf dem Mond aussehen wird, muss man sich die Geschichte der Antarktis anschauen. Da ging es auch zuerst darum, eine Flagge am Südpol aufzustellen. Danach gab es erst mal jahrzehntelang wenig Forschung. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kam dann der große Schub nach vorne, als man realisiert hat, dass es sehr wichtige wissenschaftlichen Gründe gibt, um die Antarktis zu erforschen. Und vor dieser zweiten Welle stehen wir jetzt auch beim Mond. Das werden am Anfang "nur" Expeditionen sein, wir fliegen hin und wieder zurück. Aber bald danach wird es so sein wie in der Antarktis, dass wir permanente Forschungsstationen etablieren.
tagesschau.de: Ist schon klar, was wir als Europäer dazu beitragen?
Gerst: Wir, die ESA, wollen für zukünftige Missionen etwa den sogenannten Argonaut beitragen, das ist ein robotisches Landemodul, das Fracht und wissenschaftliche Experimente zum Mond bringt. Außerdem wollen wir ein Satellitennavigations- und Kommunikationssystem um den Mond herum aufbauen, das wir "Moonlight" nennen. Das ist elementar wichtig, damit Raumschiffe auf dem Mond wie auf der Erde auch mit dem Navi navigieren können und eine stabile Datenverbindung haben. Das sind die nächsten Vorschläge für die europäischen Beiträge zu den "Artemis"-Missionen, zusätzlich zu den Bestehenden. Wir liefern ja jetzt bereits das Antriebsmodul für das Orion-Raumschiff und mehrere Module für die Gateway-Raumstation, die in wenigen Jahren als Zwischenstation um den Mond kreisen wird.
"Dinge erforschen, die eventuell überlebenswichtig sind"
tagesschau.de: Auf dem Mond will man in Zukunft das Wassereis in der Südpolregion nutzen. Wie hat man sich das vorzustellen?
Gerst: Es geht darum, dass wir dort die Ressource Wassereis nutzen, weil wir Wasser brauchen, um dort zu leben. Dadurch können wir sehr viel Treibstoff sparen, da wir das Wasser nicht zum Mond fliegen müssen. Gerade in der Südpolregion gibt es Krater, in die nie die Sonne hineinscheint. Dort ist es so kalt, dass sich tatsächlich über die Jahrmillionen Wassereis gehalten und gesammelt hat. Das wollen wir finden, auftauen, zum Trinken benutzen oder aufspalten, um Sauerstoff oder Raketentreibstoff - Sauerstoff und Wasserstoff - daraus zu gewinnen, um dann damit wieder zurückzufliegen zur Erde oder weiterzufliegen zum Mars.
tagesschau.de: Was wollen Sie noch auf dem Mond erforschen?
Gerst: Wir wollen Dinge erforschen, die eventuell überlebenswichtig für uns auf der Erde sind. Unter anderem das Thema Asteroiden, die als Meteoriten auf der Erde und auf dem Mond einschlagen können. Das ist eine große Gefahr auch für uns Menschen. Wir haben selbst einen 15 Kilometer großen Meteoritenkrater in Süddeutschland, das Nördlinger Ries. Solche Einschläge wird es wieder geben. Wir wissen aber nicht genau, wie wahrscheinlich das ist. Darum müssen wir auf dem Mond die vorhandenen Meteoritenkrater untersuchen, um das Risiko eines erneuten Einschlags auf der Erde besser einschätzen zu können. Dann könnten wir auf dem Mond vielleicht eine Abwehrstationsbasis einrichten, um von dort aus schneller Abwehrmissionen gegen Asteroiden zu starten, wenn einer wieder Kurs auf die Erde nimmt.
Wir können vom Mond aus auch tiefer in den Weltraum schauen, um die anfliegenden Asteroiden schneller zu entdecken. Insgesamt werden wir auf dem Mond, wie in der Antarktis, viele neue Dinge entdecken. Zu Beispiel haben wir erkannt, dass die Antarktis ein wichtiges Klimaarchiv ist. Klimainformationen sind dort im Eis eingefroren. Auf dem Mond wird es so ähnlich sein mit dem Sonnenwind, der ist eventuell eingefroren im Mondstaub der vergangenen Millionen Jahre. Wir können dann vielleicht den Sonnenwind rekonstruieren und Rückschlüsse ziehen, wie wahrscheinlich es ist, dass uns die Sonne vielleicht irgendwann mal durch erhöhte oder verringerte Aktivität gefährlich werden könnte.
"Licht ins Dunkel bringen"
tagesschau.de: Warum wollen Sie persönlich zum Mond fliegen?
Gerst: Ich bin Entdecker, das habe ich schon in frühester Kindheit gemerkt und immer den Drang gehabt, irgendwie Licht ins Dunkel zu bringen. Ich habe mich stets für die Stellen in der Wissenschaft interessiert, wo man die Chance hatte, Neues zu entdecken. Deswegen habe ich auch erst mal studiert, um Geophysiker und Vulkanologe zu werden.
Mich hat das Erd- und Mondsystem schon immer interessiert. Gerade als Geophysiker hat man selten die Chance, sein Untersuchungsobjekt mal von außen zu sehen. Der Mond ist so unentdeckt und doch so zum Greifen nah. Das übt für mich eine Faszination aus, dahinzufliegen und dann dazu beizutragen, dass man ein bisschen was von diesem Dunkel mit Licht füllt und Wissen mit zur Erde zurückbringt.
tagesschau.de: Wie bereiten Sie sich auf eine mögliche Mondmission vor?
Gerst: Ich bin derzeit Leiter des europäischen Astronautenkorps für die neue Generation der ESA-Astronautinnen und -Astronauten, aber gleichzeitig selbst noch aktiv. Für die "Artemis"-Missionen brauchen wir Astronautinnen und Astronauten, die bereits lange in der Schwerelosigkeit gelebt und gearbeitet haben. Ich habe regelmäßig Trainingseinheiten auf dem Plan, die mich und meine Kolleginnen und Kollegen auf solche Missionen vorbereiten. Zum Beispiel das Arbeiten im Raumanzug oder Flugtraining. Außerdem üben wir, in schwierigen Umgebungen Wissenschaft zu betreiben, also etwa in der Antarktis, in unterirdischen Höhlen oder in Vulkanregionen.
Das Gespräch führte Ute Spangenberger, SWR