Neues Phänomen Rio de Janeiro wird zum Buckelwal-Hotspot
Dass im Südatlantik Wale zu Hause sind, ist keine Überraschung. Dass sie sich aber ausgerechnet vor der Kulisse von Rio de Janeiro tummeln, ist neu. Und für Biologen ein gutes Zeichen.
Matheus kneift die Augen zusammen. Das gleißende Licht an der Copacabana macht es ihm nicht gerade leicht, hinaus aufs Meer zu schauen. Der Blick des Urlaubers fährt langsam das Wasser ab. Plötzlich hält er inne. "Ich sehe da hinten etwas Großes im Wasser, es könnte ein Wal sein!" Andere Besucher des berühmten Strandes von Rio de Janeiro schauen auch hinaus aufs Wasser. Einige haben Ferngläser dabei. Tatsächlich ist in der Ferne ein schwarzer Fleck zu sehen, der sich bewegt. Mit etwas Fantasie könnte es die Schwanzflosse eines Buckelwals sein.
Guilherme Maricato hält es für gut möglich, dass die Strandbesucher an diesem Vormittag einen Treffer gelandet haben: eine Walsichtung von der Küste aus. Der 32-Jährige ist Biologe und arbeitet am Buckelwal-Institut in Rio, dem Instituto Baleia Jubarte. Aktuell seien einfach so viele Wale vor der Küste unterwegs wie noch nie, sagt Guilherme.
Buckelwale erkunden neue Gebiete.
Die Bestände hätten sich erholt. Während die Säugetiere Mitte der 1980er Jahre noch vom Aussterben bedroht waren, ihre Zahl war auf weniger als 1.000 Tiere gesunken, leben inzwischen rund 35.000 von ihnen im Südatlantik. "Da ist es ganz natürlich, dass die Wale neue Gebiete erkunden und sich dort auch ausbreiten", erklärt der Biologe. Eines dieser neuen Gebiete sind also jetzt die Gewässer vor Zuckerhut und Christus-Statue.
Die Könige des Südatlantiks
Buckelwale gelten als die Könige des Südatlantiks. Die schwarzen Riesen sind etwa 15 Meter lang und werden 30 bis 40 Tonnen schwer. Jetzt, im südamerikanischen Winter, schwimmen sie mehrere tausend Kilometer von der Antarktis nach Brasilien, um hier ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen.
Klassischerweise ist Bahia das Ziel, eine Region weiter nördlich von Rio, eine der artenreichsten Ecken des Atlantiks mit Korallenriffen und mehr als 1.300 Tier- und Pflanzenarten. Das Revier gilt als ideal für die Aufzucht der Buckelwal-Jungen. "Im Vergleich zu Rio de Janeiro sind es wärmere, flachere Gewässer. Dort sind auch die Jungtiere besser geschützt", sagt Biologe Maricato. Buckelwale stehen zwar an der Spitze der maritimen Nahrungskette, aber erst im Erwachsenenalter. Das warme Wasser in Bahia kommt den jungen Buckelwalen auch zugute, weil sie noch eine dünnere Fettschicht haben, also schlechter vor Kälte geschützt sind.
Schwanzflosse wie ein Fingerabdruck
Aber die Gewässer vor Rio de Janeiro bieten auch gute Bedingungen für die Wale. Aktuell sind die Temperaturen vergleichsweise mild für die Jahreszeit - an Land und im Wasser. Guilherme Maricato und seine Crew beobachten die Buckelwale vor Rio zurzeit verstärkt: Die Forscher fahren mit kleinen Booten raus und fotografieren die Schwanzflossen der Tiere. Sie sind so etwas wie ihr Fingerabdruck. Eindeutige Merkmale an der Flosse zeigen den Biologen, mit welchem Wal sie es konkret zu tun haben. Über digitale Plattformen tauschen Wissenschaftler diese Fotos aus.
"So können wir nachvollziehen, wohin sich die Tiere genau bewegen - über Jahre hinweg. Wann sie also mal in Rio auftauchen und wann woanders in Brasilien. Mit dieser Fotoidentifizierung können wir unglaubliche Ergebnisse erzielen", erklärt Guilherme. Die Forscher versuchen bei ihren Exkursionen aber auch, Bilder von den kompletten Tieren zu machen, etwa aus der Luft mit Drohnen. "Wir können dann erkennen, ob der Wal dünn oder pummelig ist, ob er gesund oder weniger gesund wirkt."
Anhand der Schwanzflosse können Forschende einen Buckelwal identifizieren.
Wal-Fotos für die Wissenschaft
Dass die Buckelwale vor Rio aktuell auch ein beliebtes Fotomotiv von Urlaubern sind, findet der Biologe unproblematisch - auch dass extra Bootstouren für Fans der Tiere organisiert werden. Guilherme hält es nur für wichtig, dass es kleine Boote sind, die auf Walexpedition gehen. Größere Schiffe können die Tiere verletzen, wenn sie auftauchen, um ihre berühmte Wasserfontäne auszustoßen und Luft zu holen.
Und im Gebiet rund um Rio de Janeiro sind ohnehin schon viele schwere Passagier- und Frachtschiffe unterwegs. Außerdem kommt es in der Region immer wieder vor, dass sich Buckelwale in Fischernetzen verfangen. Die Behörden haben für die Schiffstouren zur Walbeobachtung Regeln aufgestellt: Die Boote dürfen den Walen nicht zu nahekommen, der Abstand zwischen Schiff und Tier muss mindestens 100 Meter betragen, was natürlich nur funktionieren kann, wenn der Kapitän des Bootes den Wal frühzeitig im Wasser erkennt.
Ein paar Wochen dürfte das außergewöhnliche Spektakel vor Rio noch andauern, rechnen Experten. Im Laufe des Augusts wird die Wal-Spotting-Saison wahrscheinlich zu Ende gehen. "Schade", sagt Tourist Matheus am Strand der Copacabana. Er will sich beeilen, um seine verbleibenden Urlaubstage in Rio noch für eine Fahrt mit einem Ausflugsschiff zu nutzen. Denn ein Wal-Foto fehlt ihm noch. Die mutmaßliche Flosse, die er vom Strand aus gesehen hat, ist genauso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.