Inflation und hohe Mieten Für türkische Rentner wird Wohnen zum Luxus
Die enorme Inflation in der Türkei belastet Rentner besonders. Wohnen in den Städten ist so teuer, dass einige wieder in die Dörfer ziehen. Wahlkampf-Versprechen von Präsident Erdoğan greifen bislang nicht.
"Ich bekomme 7.500 Türkische Lira Rente, umgerechnet circa 250 Euro, zahle 250 Euro Miete, hinzu kommen noch Strom, Wasser, Rechnungen und Einkäufe", sagt Ayşe Aktaş. "Es ist also ein Ding der Unmöglichkeit, nur von der Rente zu leben." Die Rentnerin gehörte früher zur Mittelschicht, als sie noch für die Textilbranche arbeitete. Wenn sie nicht seit drei Jahren zusätzlich in dem Second-Hand-Laden ihres Mannes arbeiten und er sie finanziell unterstützen würde, könnte sie ihren Lebensunterhalt in Istanbul nicht bestreiten.
Die monatliche Rente von Ayşe Aktaş reicht nicht - sie muss weiter arbeiten.
Ayşe gehört zu rund einem Drittel der Rentner, die von einer monatlichen Rente von etwa 250 Euro leben müssen. Laut Gewerkschaftsberechnungen liegt Ayşe damit nur knapp über der Armutsgrenze. Viele Renterinnen und Rentner müssen daher weiter arbeiten.
Jahresteuerung von fast 60 Prozent vorhergesagt
Es vergeht kaum ein Tag ohne Preiserhöhungen. Kostete der türkische Sesamkringel Simit im letzten Jahr noch fünf Türkische Lira, hat sich der Preis jetzt verdoppelt. Gemäß den Daten der Inflationsforschungsgruppe ENAGrup erhöhte sich der Preisindex, der aus täglichen Preisänderungen zwischen Juni und Juli 2023 berechnet wurde, um 13,18 Prozent. Danach stiegen die Kosten für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke um 14,66 Prozent, die Wohnkosten um 6,05 Prozent und die Preise für Restaurants um 9,15 Prozent. Es wird erwartet, dass sie noch weiter steigen.
Die Inflation lag im Juli bei rund 47,83 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Zentralbank-Prognose für die Jahresinflation liegt bei 58 Prozent. Experten vermuten, dass die Teuerung um ein Vielfaches höher ist. Viele Menschen müssen sich aufgrund der ständig steigenden Preise stark einschränken oder sind auf finanzielle Unterstützung ihrer Familien angewiesen.
Mieten in Großstädten steigen stark
Besonders betroffen sind Rentner in Großstädten - die durchschnittliche Miete für Wohnungen in Istanbul etwa beträgt mittlerweile das 1,5-Fache des Mindestlohns. Laut Stadtverwaltung sind die Mieten in den letzten vier Jahren um knapp 700 Prozent gestiegen.
Viele Rentnerinnen und Rentner sehen sich daher gezwungen wegzuziehen. Ayşe Aktaş kennt einige, denen es so geht. Eine von ihnen ist Arzu Belbüken. Die Rentnerin arbeitet noch selbständig als Übersetzerin und Coach und zieht bald nach Izmir. In ihrem Alltag muss sie sich stark einschränken.
Arzu Belbüken muss sich wegen der enormen Inflation stark einschränken.
"Früher bin ich sehr oft - fast täglich - Essen gegangen. Jetzt geht das maximal nur noch alle zwei Wochen. Wir müssen uns der Situation anpassen und unsere Gewohnheiten ändern", sagt sie und schaut dabei auf den Boden. Auf die Frage, ob sie Ersparnisse bilden kann fürs Alter, wenn sie nicht mehr wie jetzt zusätzlich arbeiten kann, sagt sie: "Das geht nicht. Carpe Diem! Lebe den Tag. Ich habe aufgehört, zu träumen. Ich lebe nur noch den Moment."
Sind "revolutionäre Schritte" nötig?
"Wenn die Türkei in den kommenden Jahren keine ernsthaften und möglicherweise revolutionären Schritte zur Lösung der Wohnungskrise unternimmt, wird sich diese Krise vertiefen, und wir werden mit der schwerwiegendsten Wohnungsnot in der Geschichte der Republik konfrontiert sein", teilt Buğra Gökce, stellvertretender Generalsekretär der Istanbuler Stadtverwaltung IBB, beim Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) mit.
Laut den vom Statistikamt der Türkei TÜİK veröffentlichten Daten sank die Bevölkerung Istanbuls im Jahr 2020 um mehr als 56.000 Personen auf etwas mehr als 15 Millionen Personen. 2021 setzte sich laut offiziellen Angaben ein ähnlicher Trend fort. Aufgrund der Inflation und zusätzlich der Angst vor dem prognostizierten großen Erdbeben in Istanbul rechnen Experten nun damit, dass sich die Zahl mindestens verdoppeln wird.
Die AKP-Regierung plant, die Rückwanderung in die Dörfer zu fördern. Es wird darüber nachgedacht, Rentnern beispielsweise Strom und Wasser zu subventionieren, wenn sie aus Istanbul wegziehen. Eine Maßnahme, um die Bevölkerungsdichte in der Megametropole zu verringern - die dabei die Gentrifizierung vorantreibt. Dass die Rentner wegziehen, löst weder das Problem der Inflation, noch verbessert das die verheerenden finanziellen Bedingungen.