Inflation in Großbritannien Mit Wachstum gegen wachsende Armut
Steigende Preise machen immer mehr Briten zu schaffen. Experten befürchten, dass 2022 weitere 250.000 Haushalte in extreme Armut abrutschen könnten. Der Lösungsansatz der Johnson-Regierung: Wirtschaftswachstum.
Jeden Tag gibt es neue Berichte über Briten, die dramatische Einschnitte hinnehmen müssen. Emma French ist eine von ihnen. Sie erzählte der BBC, was die explodierenden Lebenshaltungskosten für sie und ihre Familie bedeuten. "Wir gehen zur Tafel. Der Supermarkteinkauf gehört der Vergangenheit an, der ist jetzt Luxus", sagt French. "Mein Mann verzichtet auf Frühstück und Mittag, er isst nur Abendbrot, aber wir sitzen nicht mehr zum Abendessen zusammen. Was wir haben, muss rationiert werden, damit die Kinder bekommen, was sie brauchen."
"Ein unhaltbarer Zustand"
Die Tafeln machen inzwischen die Erfahrung, dass viele Bedürftige keine Lebensmittel mehr wollen, die noch gekocht werden müssen. Denn die Preissteigerungen bei Gas und Strom sind noch viel größer als die bei Lebensmitteln. Die Lebensmittelpreise sind im Jahresvergleich um sechs Prozent gestiegen, der Preisdeckel für Energie wurde im April aber um 54 Prozent angehoben. Für einen durchschnittlichen Haushalt bedeutet das Mehrausgaben von 700 Pfund im Jahr, und im Herbst, das ist schon sicher, kommt die nächste Erhöhung.
Schätzungen zufolge könnten dann zehn Millionen Haushalte nicht mehr genug Geld für Energie zur Verfügung haben und 250.000 Haushalte könnten in extreme Armut abrutschen. Martin Lewis, der die Website "moneysavingexpert" betreibt und die Bürger beim Sparen berät, fordert mehr Unterstützung vom Staat. "Ich habe die Finanzkrise erlebt, Corona erlebt. Was wir jetzt gerade erleben, ist das Schlimmste", sagt Lewis. "Mir erzählen Leute, dass sie sich früher, wenn sie Prioritäten setzen mussten, zwischen einem Frisör- und einem Pubbesuch entschieden haben. Jetzt lautet die Entscheidung: 'Lass ich meine Kinder essen oder esse ich selbst?' Das ist für unsere Gesellschaft ein unhaltbarer Zustand."
Johnson setzt auf Wachstum statt auf Sozialleistungen
Premier Boris Johnson verwies zuletzt im Unterhaus darauf, dass die Regierung den Bürgern bereits 150 Pfund Gemeindesteuer erlassen habe. Außerdem will sie die Stromrechnungen im Herbst um 200 Pfund reduzieren, allerdings müssen die Verbraucher diesen Betrag später zurückzahlen.
Während die Opposition fordert, die Ölkonzerne stärker zu besteuern und den Bürgern mit Soforthilfen unter die Arme zu greifen, setzt Premier Johnson auf Wirtschaftswachstum. "So groß auch unser Mitgefühl und unser Einfallsreichtum sein mag, wir können das Problem nicht einfach lösen, indem wir Geld ausgeben", sagt der Premierminister. "Wir müssen aus dem Problem herauswachsen, indem wir Hunderttausende neue, hochbezahlte, hochqualifizierte Jobs im Land schaffen."
Selbst Experten wissen keinen Rat mehr
Den Bürgern in akuter Not hilft diese Vision nicht weiter. Gerard Barwick weiß schlichtweg nicht, wie er die nächste Teuerungsrunde überstehen soll. "Wir heizen schon weniger, wir verbrauchen weniger Strom, und im Oktober sollen die Kosten um weitere 1000 Pfund steigen? Wir blicken jetzt schon in ein leeres Portemonnaie."
Auch der Experte fürs Geldsparen, Lewis, ist mit seinem Latein am Ende. Er habe jetzt keine Tipps mehr, um den Leuten noch zu helfen, sagt er. Angesichts des wachsenden Drucks will sich die Regierung in den nächsten Tagen noch einmal zum Thema äußern, aber dass es einen Notfallhaushalt geben könnte, wurde schon dementiert.