Zinswende in Europa Warum die EZB so zögerlich ist
Die EZB wird heute das erste Mal seit rund elf Jahren die Leitzinsen anheben - allerdings wohl nur moderat. Der Zeitpunkt für diesen Schritt könnte kaum ungünstiger sein.
Gut zwei Jahre lang hielt die Corona-Pandemie auch die EZB fest im Griff: Es galt die höchste Sicherheitsstufe im Frankfurter Eurotower; monatelang war das gläserne Gebäude am Main verwaist, die Mitarbeitenden zum großen Teil im Homeoffice. Auch die traditionellen Pressekonferenzen im Anschluss an die geldpolitischen Sitzungen wurden per Videoschalte abgehalten. Zwar ist die Pandemie noch lange nicht vorbei.
Doch diese Woche gehen Präsidentin und Vize-Präsident in Frankfurt wieder physisch vor die Presse. Sie werden eine für die EZB-Geschichte historische Nachricht verkünden: Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt werden die Währungshüter die Leitzinsen anheben und damit einen Schlussstrich unter die Ära der lockeren Geldpolitik ziehen.
Schrittweise Anhebung geplant
Die Höhe dieses Schritts wurde bereits auf der vergangenen EZB-Ratssitzung in Amsterdam festgelegt: Um 0,25 Prozentpunkte sollen die Leitzinsen steigen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde machte deutlich, dass dies der "Anfang einer Reise" sei, in der die Zinsen in den kommenden Monaten weiter angehoben werden. Viele Volkswirte gehen davon aus, dass der Zinssatz im kommenden Frühjahr auf bis zu 1,5 Prozent gestiegen sein wird.
Das zögerliche Vorgehen klingt nicht gerade wirkungsvoll angesichts einer Rekordinflation von derzeit 8,6 Prozent im Euroraum und der Aussicht, dass die Teuerung auch im Gesamtjahr auf den historischen Höchstwert von 7,6 Prozent zusteuert. Viele Beobachter fordern deshalb einen deutlich stärkeren Zinsschritt zum Auftakt von mindestens 0,5 Prozentpunkte. Auch im EZB-Rat mehreren sich diese Stimmen. Ob es dazu kommt, ist aber fraglich: zum einen, weil sich die Währungshüter in Amsterdam bereits festgelegt haben. Zum anderen, weil sich große Teile des EZB-Rates mit der Entwicklung ohnehin nicht wohl fühlen.
"Eigentlich zur Unzeit"
Denn einen schlechteren Zeitpunkt für die Zinswende hätte sich die EZB kaum aussuchen können. Angesichts der konjunkturellen Entwicklung kommt der Schritt "eigentlich zur Unzeit", schreiben etwa die Volkswirte des Bankhaus M.M.Warburg. Denn ausgelöst durch den Krieg gegen die Ukraine könnte die sich verschärfende Energiekrise, insbesondere ein möglicher Stopp der Gaslieferungen aus Russland, die Wirtschaft der Eurozone in eine heftige Rezession werfen.
In einer solchen Situation sind Zinserhöhungen normalerweise Gift: Sie würgen die schwache Konjunktur weiter ab, weil dadurch Investitionen für Unternehmen teurer werden und sich der private Konsum tendenziell abschwächt. Doch angesichts der Rekordinflation, die mehr als viermal über dem Zielwert von zwei Prozent liegt und in einigen Mitgliedsstaaten, wie etwa Estland, mittlerweile die 20-Prozent-Marke übersprungen hat, bleibt den Währungshütern keine Wahl, wollen sie nicht ihr Vertrauen verspielen.
Die EZB hinkt hinterher
Nun rächt es sich, dass die EZB in den vergangenen Monaten zu zögerlich und zaudernd war und die Dynamik der Inflation systematisch unterschätzt hat. Die meisten Notenbanken der Welt haben längst auf das globale Phänomen der hohen Inflation reagiert und versuchen, mit zum Teil deutlichen Zinserhöhungen gegenzusteuern. Seit Juli 2021 haben nach einer Erhebung des Internationalen Währungsfonds (IWF) bereits 75 Notenbanken rund um den Globus ihre Leitzinsen erhöht - zum Teil sehr aggressiv. Das trifft insbesondere für die Zentralbank der USA zu, der Federal Reserve: Seit dem Frühjahr hat sie die dortigen Leitzinsen auf die derzeitige Spanne von 1,5 bis 1,75 Prozent angehoben. Allein der Zinsschritt im Juni betrug 0,75 Prozent - der höchste Sprung seit 1974.
Angesprochen auf die unterschiedlichen Entwicklungen in den USA und der Eurozone wies EZB-Präsidentin Lagarde Kritik an der Politik ihres Hauses immer wieder zurück. Sie betonte, die Situation in Nordamerika und im Euroraum sei völlig unterschiedlich. Deshalb müsse es auch unterschiedliche geldpolitische Reaktionen geben, was den vorsichtigen Kurs der EZB rechtfertigte.
Lage in USA und Europa nicht vergleichbar
Auf den ersten Blick scheint das auch zu stimmen: Die Struktur der Inflation in beiden Regionen ist tatsächlich verschiedener Natur. In Europa wird sie vor allem durch den Krieg angefacht, was Energie und Rohstoffe massiv verteuert. Dagegen kann man mit höheren Zinsen wenig ausrichten. In den USA ist die Inflation eher "hausgemacht". Sie entstand durch eine sich überhitzende Konjunktur als Gegenreaktion auf den Corona-bedingten Absturz.
Zwar treibt der Krieg gegen die Ukraine die Energiepreise auch in den USA an, weil die Notierungen ja auf den internationalen Märkten entstehen. Das Land hat aber den großen Vorteil, sich mit Öl und Gas weitgehend selbst versorgen zu können, und es ist nicht, wie große Teile Europas, von russischen Gas-Lieferungen abhängig. Unter solchen Bedingungen können Zinserhöhungen deutlich wirkungsvoller sein, weil sie einen größeren Effekt bei der Inflationsbekämpfung haben.
Lohn-Preis-Spirale und schwacher Euro
Auf den zweiten Blick ist die Argumentation der EZB aber nur die halbe Wahrheit, denn die Notenbank treibt mit ihrer Zurückhaltung die Inflation in Europa selbst mit an. Zum einen, weil die Bevölkerung dadurch weitere Preissteigerungen erwartet; die dürften in höhere Löhne münden, wodurch Unternehmen die Preise erneut erhöhen und sich Inflation so verfestigen kann. Zum anderen durch den Effekt über den Wechselkurs-Mechanismus. Da die Zinsen in den USA nun schon seit längerem viel höher sind als in der Eurozone, haben viele Großinvestoren ihre Geldanlagen in die USA verschoben, was wesentlich attraktiver ist. Das hat den US-Dollar massiv gestärkt und dementsprechend den Euro auf Talfahrt geschickt. Der fiel kürzlich zeitweise sogar auf die Parität zum Dollar, ein Euro war also nur noch rund einen Dollar wert. Allein in diesem Jahr verlor die Gemeinschaftswährung rund zwölf Prozent an Wert gegenüber dem Dollar.
Weil aber Energie und Rohstoffe auf den Weltmärkten in der Regel in der US-Währung abgerechnet werden, müssen Europäer derzeit deutlich mehr Euro dafür auf den Tisch legen. Die niedrigen Zinsen im Euroraum erhöhen also die Kosten für die ohnehin schon teuren Energieeinfuhren noch weiter. Die Zeche müssen Verbraucherinnen und Verbraucher über die gestiegenen Preise zahlen.
Schuldenlast drückt Südeuropas Eurostaaten
Nicht zuletzt ist die EZB auch in dieser Krise wieder Gefangener in ihrer Rolle als Feuerwehr für die Eurozone. Denn viele Ratsmitglieder sorgen sich darum, dass das Ende der lockeren Geldpolitik die Finanzierung der Staatshaushalte in den südeuropäischen Ländern verteuert. Tatsächlich zogen die dortigen Renditen für Staatsanleihen nach der Entscheidung über das Ende der Anleihekäufe und die Zinswende sofort an - insbesondere in Italien, wo die gegenwärtige Regierungskrise ihr Übriges zu dieser Entwicklung beiträgt.
Prompt berief die EZB angesichts dieser Situation nur wenige Tage nach ihrer Ratssitzung in Amsterdam eine Notfall-Sitzung ein. Manche sprachen vom Beginn einer neuen Euro-Krise, von der die Währungsunion in Wirklichkeit aber weit entfernt ist. Trotzdem will die EZB diese Woche ein neues Notfall-Instrument vorstellen, um zu stark steigende Renditen bei Staatsanleihen zu deckeln.
Es bleibt ein Drahtseilakt für Lagarde
Dies hat bereits viele Kritiker auf den Plan gerufen: "Die finanzielle Unterstützung einzelner hoch verschuldeter Länder gehört (…) nicht zu ihrem Mandat", meint etwa ifo-Präsident Clemens Fuest zum EZB-Vorstoß. Diese Rücksichtnahme auf Probleme, die eigentlich von Regierungen gelöst werden müssen, lenke von der eigentlichen Aufgabe der EZB ab: Preisstabilität zu gewährleisten.
Die Währungshüter befinden sich also in einem Dilemma: Sie müssen die Zinsen anheben, um die Inflation zu bekämpfen, aber die konjunkturelle Situation spricht eigentlich dagegen. Gleichzeitig stellen sie sich selbst ständig Fallstricke, weil sie auf das wackelige Konstrukt der Währungsunion Acht geben müssen, was im Kern nicht ihre Aufgabe ist. In dieser schwierigen Situation wagt die EZB nun immerhin den Neustart und leitet die Zinswende ein. Doch es dürfte für Präsidentin Lagarde ein Drahtseilakt werden, wenn sie dies auf der Pressekonferenz in Frankfurt verkündet.
Die EZB hat ein neues Kriseninstrument angekündigt, mit dem sie verhindern will, dass die Renditen von Staatsanleihen aus dem Ruder laufen. Mit diesem Programm unter dem Namen TPM (Transmission Protection Mechanism) will die Notenbank Staatsanleihen einzelner Euroländer kaufen - notfalls unbegrenzt.
Noch ist unklar, an welche Bedingungen diese Ankäufe geknüpft sind. Ein solches Instrument gibt es bereits: es heißt OMT (Outright Monetary Transaction) und wurde im Zuge der Eurokrise kreiert. Der Kauf von Staatsanleihen ist hier aber an sehr strenge Auflagen geknüpft, die die betroffenen Länder zu einschneidenden Reformen zwingen. Deshalb wurde das Programm nie in Anspruch genommen.
Dem Vernehmen nach sollen beim jetzt angedachten Programm diese Bedingungen deutlich lockerer sein. Ein Zwang etwa, dass ein überschuldetes Land seine Finanzen in Ordnung bringen muss, würde es dann nicht mehr geben. Damit sinkt die Hürde, das TPM-Programm in Anspruch zu nehmen; die Notenbank könnte also schneller handeln. Das Instrument wirft rechtliche Fragen auf, denn der EZB ist die offene Finanzierung von Staaten eigentlich untersagt.
Der Anstieg der Renditen von Staatsanleihen war ein zentraler Auslöser für die Eurokrise von 2010 bis 2012. Damals wurde gegen hoch verschuldete Euro-Länder spekuliert, was deren Renditen immer höher stiegen ließ. Unterbunden wurde diese Entwicklung, die im Kern eine existentielle Bedrohung der europäischen Währungsunion darstellte, durch den berühmten Auftritt des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi in London: Man werde alles tun, was nötig sei, um den Euro zu bewahren, sagte er dort ("Whatever it takes"-Rede). Im Zuge dessen folgten mehrere Anleihe-Kaufprogramme der EZB, die die Spekulation beendeten und die Rendite-Entwicklung normalisierten.