Erwartete Zinssenkung "EZB spielt Inflationsgefahr herunter"
Obwohl die Inflation im Mai wieder angezogen hat und sich hartnäckig hält, wird die Europäische Zentralbank wohl heute die Leitzinsen senken. Kritiker halten den Schritt für verfrüht. Welche Risiken drohen?
Richtig wohl fühlt sich Christine Lagarde in der regelmäßigen Pressekonferenz nach der Ratssitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) nur selten. Häufig wirkt die EZB-Präsidentin fahrig und unkonzentriert, mitunter hat sie Fakten nicht parat, antwortet ausweichend und kann auch schon mal austeilen, wenn ihr eine Frage nicht gefällt. Dieses Mal dürfte ihr Unbehagen besonders groß sein. Denn so viel Kritik von allen Seiten an einer Entscheidung, die noch nicht einmal getroffen ist, gab es im Vorfeld nur selten.
In der Wirtschafts- und Finanzwelt geht man fest davon aus, dass die EZB die Zinswende einleiten wird. Allgemein wird mit einer Senkung des Hauptleitzinssatzes um 0,25-Prozent-Punkte auf dann 4,25 Prozent gerechnet. Es wäre die erste Zinssenkung seit rund acht Jahren - ein historischer Schritt, denn damit würde die EZB ihre straffe Geldpolitik im Kampf gegen die hohe Inflation erstmals wieder lockern.
Vorfestlegung statt "ergebnisoffen"
Zahlreiche Ratsmitglieder haben das Vorgehen angekündigt, auch die Chefin selbst. Vize-Präsident Luis de Guindos konkretisierte die Höhe des Zinsschrittes vor wenigen Tagen in einem Interview der Oberösterreichischen Nachrichten. Und Frankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bereits von einem "done deal"- also einer Entscheidung, an der nichts mehr zu rütteln sei.
All das ganz zur Freude der Kollegen aus Portugal und Italien, die schon seit Monaten für eine Zinssenkung trommeln, um die Finanzierung der hohen Schulden in diesen Ländern zu erleichtern. Mittlerweile ist der Druck so hoch, dass auch die Hardliner im EZB-Rat klein beigegeben haben. Dies ist alles umso erstaunlicher, weil EZB-Chefin Lagarde in den vergangenen Monaten immer wieder behauptet hat, die Ratssitzungen seien "ergebnisoffen".
Wenig spricht für eine Zinssenkung
Viele Beobachterinnen und Beobachter reiben sich da verwundert die Augen. Tatsächlich spricht derzeit wenig für eine Zinssenkung: Nach einem deutlichen Rückgang ist die Inflationsrate im Euroraum im Mai von 2,4 auf 2,6 Prozent wieder gestiegen. Auch in Deutschland. Dort zog sie nach deutscher Berechnung von 2,2 auf 2,4 Prozent an. Nach europäischer Berechnung liegt sie sogar wieder bei 2,8 Prozent.
Auch in vielen anderen EU-Staaten ist die Inflationsrate weit entfernt vom selbst gesteckten Ziel der EZB, eine Teuerung von zwei Prozent zu erreichen: etwa in Belgien, das mit 4,9 Prozent derzeit den höchsten Wert in der Eurozone ausweist. Auch in Kroatien liegt die Inflationsrate weiter über vier Prozent, in Österreich, Luxemburg und Zypern bei drei Prozent oder mehr.
Starke Anstiege verzeichnen Spanien mit 3,8 Prozent und überraschend Portugal mit 3,9 Prozent. Besonders hartnäckig zeigt sich die taktangebende Kerninflation, bei der die schwankungsanfälligen Preise für Nahrungsmittel und Energie herausgerechnet werden. Sie liegt bei drei Prozent und dürfte aufs Jahr gerechnet auf 3,5 Prozent steigen. Die Preise für Nahrungsmittel legen weiter zu, wenn auch nicht mehr so stark. Und bei der aus dem Ruder gelaufenen Teuerung für Dienstleistungen hat sich gar nichts getan: Die verharrt seit Monaten bei rund vier Prozent.
Beobachter kritisieren Zinsschritt
Viele Beobachterinnen und Beobachter halten den jetzt erwarteten Zinsschritt für falsch. Denn auch die EZB kann nicht wirklich erklären, warum sich die Teuerung in einzelnen Bereichen so hartnäckig hält. Sie werfen der Zentralbank vor, die Entwicklungen wieder einmal zu unterschätzen.
Das gilt insbesondere für die Auswirkungen der hohen Lohn-Steigerungen, die Gewerkschaften überall in Europa für die meisten Branchen durchsetzen konnten. Im ersten Quartal erhöhten sich die Tariflöhne in der EU durchschnittlich um 4,7 Prozent - mehr als von den Währungshütern selbst erwartet.
Ungereimtheiten bei EZB-Analyse
Die Tendenz ist weiter steigend, so auch die Prognose der Bundesbank. Dennoch behauptet man im Euro-Tower immer wieder, die Lohn-Entwicklung sei kein Preistreiber. Bei dieser Analyse der EZB gibt es auch einige Ungereimtheiten: So rechnet die Notenbank etwa Sonderzahlungen heraus, die aber zum Beispiel in Deutschland eine große Rolle spielen.
"Die EZB spielt die Inflationsgefahr herunter", kritisiert deshalb Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer in der Neuen Zürcher Zeitung, dessen Autor der EZB-Chefin auch sonst kein gutes Zeugnis ausstellt: "Gemessen an ihrem wichtigsten Arbeitsauftrag - die Preise in der Eurozone stabil zu halten - ist Christine Lagarde eine gescheiterte Frau."
"In der Rückschau als Fehler erweisen"
Wieder stehen die Vorwürfe im Raum, die EZB reagiere nicht angemessen auf die tatsächliche Lage, lege sich zu frühzeitig fest und lerne nichts aus ihren Fehlern. So musste die Präsidentin zähneknirschend mehrfach einräumen, man habe die hohe Inflations-Dynamik nach Corona unterschätzt.
Eine kürzlich von Chefvolkswirt Philip R. Lane vorgelegte Analyse, warum die EZB sich damals so vergaloppierte, offenbart Erschreckendes - jedenfalls, wenn man zwischen den Zeilen liest. Vor allem die fehlerhaften Prognose-Modelle der EZB und das Festhalten an deren Aussagen sind immer wieder ein zentraler Grund, warum es bei Europas Notenbank zu Fehleinschätzungen in der Inflationsentwicklung und damit in Folge zu unglücklichen geldpolitischen Entscheidungen kommt. Chefvolkswirt Krämer kommt daher zu dem Schluss: "Vermutlich wird sich die Zinssenkung diese Woche in der Rückschau als Fehler erweisen."
"Zinssenkung bitter nötig"
Doch es gibt auch andere Stimmen: Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, argumentiert schon seit Monaten, die EZB sei mit ihrer straffen Geldpolitik bei der Inflationsbekämpfung über das Ziel hinausgeschossen. Auch mit einem niedrigeren Leitzinssatz hätte sie die Teuerung erfolgreich bekämpfen können. Deshalb spreche nichts dagegen, die Zinsen jetzt zu senken.
Das glaubt auch Karsten Junius, Kollege beim Schweizer Bankhaus J. Safra Sarasin: Eine Zinssenkung sei "bitter nötig", weil das hohe Niveau "vor allem den Bau und die Investitionstätigkeit übermäßig belastet", so der Chefvolkswirt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte sich kürzlich ähnlich geäußert.
Von Aktienmärkten vor den Karren gespannt
Viel Spielraum hat die EZB ohnehin nicht. Denn sie hat sich erneut von den Aktienmärkten vor den Karren spannen lassen. Dort wollen die Anleger unbedingt Zinssenkungen erzwingen und haben in den vergangenen Monaten mit völlig unrealistischen Annahmen die Zinswende eingepreist, was die Kurse drastisch steigen ließ.
Da EZB-Ratsmitglieder dieses Verhalten mit ihren Aussagen immer wieder angeheizt haben, bleibt den Währungshütern jetzt nicht viel anderes übrig, als zu liefern. Denn vor nichts sorgt man sich im Frankfurter Euro-Tower mehr als vor Turbulenzen an den Finanzmärkten. Die würden mit großer Wahrscheinlichkeit folgen, sollte die EZB jetzt einen Rückzieher machen und die Zinsen nicht senken.
"Holprige" Geldmarktpolitik erwartet
Die entscheidende Frage aber ist: Wie geht es danach weiter? Bundesbank-Präsident Joachim Nagel hat schon mal Pflöcke eingeschlagen und betont, eine Zinssenkung jetzt müsse nicht bedeuten, dass es zu einer Reihe von Zinssenkungen in den nächsten Monaten komme. Schließlich fahre der EZB-Rat nicht auf "Autopilot". Und die Direktoriumsmitglieder Philip Lane und Isabel Schnabel machten in Interviews deutlich, dass die Geldpolitik in den kommenden Monaten ziemlich "holprig" werden könnte.
Was aber soll das? Mit einer kleinen Zinssenkung jetzt ohne weitere Maßnahmen wäre niemandem geholfen außer den Spekulanten am Aktienmarkt. Mit einer harten Inflationsbekämpfung aber sehr wohl. Denn die Auswirkungen eines kleinen Zinsschrittes auf die realen Zinssätze sind unerheblich, wie man bereits im Vorfeld erkennen kann. So sind etwa die Hypotheken-Zinsen, Dreh- und Angelpunkt für die Finanzierung einer Immobilie, nicht etwa gefallen, sondern steigen seit Anfang des Jahres wieder: Derzeit liegen sie mit einer zehnjährigen-Zinsbindung bei rund 3,7 Prozent, über ein halber Prozentpunkt mehr als zum Jahresanfang.
Schlechte Nachrichten für Immobilienkäufer
Das sind schlechte Nachrichten für alle, die sich eine Immobilie zulegen wollen. Auch der Bauindustrie hilft das nicht. Was ihr hingegen hilft, ist der deutliche Rückgang der Teuerung durch die Inflationsbekämpfung bei vielen Baustoffen - ein Grund, weshalb Teile der Branche auch wieder leicht aufatmen.
Auch bei den hohen Kreditzinsen tut sich für Verbraucherinnen und Verbraucher nichts. Freuen können sie sich lediglich darüber, dass die Zinsen für Fest- und Termingelder stabiler sind als erwartet. Durch die Inflationsbekämpfung verbuchen sie jetzt einen Real-Gewinn statt lediglich einen Ausgleich für die Inflation, weil ja der ausgeschüttete Zins höher ist als die Teuerung. Auch unter all diesen Gesichtspunkten spricht derzeit nichts für eine Zinssenkung, aber viel für eine weitere konsequente Bekämpfung der Inflation.
Wachsende Skepsis gegenüber der EZB
Man werde der "Inflation das Genick brechen" und nicht locker lassen bis das Zwei-Prozent-Ziel erreicht sei, hatte Christine Lagarde vor wenigen Monaten den verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern der Eurozone versprochen. Mit welchem Spagat sie vor diesem Hintergrund die jetzt erwartete Zinssenkung auf der Pressekonferenz rechtfertigen will, dürfte ihr und den Verantwortlichen in der EZB ganz schön zu denken geben und für viel Unruhe sorgen.
Dies umso mehr, da das Ansehen der EZB ohnehin nicht das Beste ist: Nach den jüngsten Erhebungen haben nur rund 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in der Eurozone Vertrauen in die EZB. 37 Prozent vertrauen den Währungshütern eher nicht.