Milliardenverlust bei JPMorgan Chase "Menschliches Versagen in unreguliertem System"
Schock an den Finanzmärkten: JPMorgan – die größte Bank der USA – hat binnen weniger Wochen zwei Milliarden Dollar verzockt. Möglicherweise ein Fall von Hybris, meint der Chefanalyst der Bremer Landesbank, Hellmeyer, gegenüber tagesschau.de - auf jeden Fall aber ein Systemversagen.
tagesschau.de: Bei komplexen Finanzwetten sei die Absicherung gescheitert – so die reumütige Begründung der Bank. Haben Sie eine Erklärung dafür, wie so was passieren kann - was ist da falsch gelaufen?
Folker Hellmeyer: Jede Bank hat interne Regulierungen über Größe von offenen Positionen und eine Abteilung, die die Einhaltung der Regeln kontrolliert. Nach den Aussagen von Bankchef Jamie Dimon sind hochriskante Wetten aufgesetzt worden und bei dem Management ungeheuerliche Fehler gemacht worden. Mit anderen Worten reden wir hier sowohl über menschliches Versagen innerhalb eines sehr komplexen Systems als auch voraussichtlich über Fehler in dem internen Kontrollsystem.
Übergeordnet erlaubt die aktuelle über die vergangenen 20 Jahre immer laxer werdende Regulierung Instituten wie JPMorgan eine derartige Positionierung, die hier Ausgangspunkt der Schieflage ist. Entsprechend wäre ich für eine Umkehr der Deregulierung der letzten 20 Jahre. Es geht darum, den Finanzsektor wieder zu einer der Realwirtschaft dienenden Funktion zu bringen.
"JPMorgan spielt eine marktbeherrschende Rolle"
tagesschau.de: Bislang galt JPMorgan als Musterknabe, kam fast unbeschadet durch die Finanzkrise. Warum lassen sich die Banker dort nun auch auf so riskante Geschäfte ein?
Hellmeyer: JPMorgan spielt eine Sonderrolle. Ich nenne diese Bank gerne die Bank der Fed - der US-Notenbank. JPMorgan hat im Bereich der Derivate, der unregulierten Produkte, in nahezu allen politisch wichtigen Märkten eine marktbeherrschende Rolle. Mithin drängt sich ein politischer "Beigeschmack" bei den Aktivitäten von JPMorgan auf. Aus einer derartig bevorzugten Position lässt sich leicht Gewinn erzielen.
Es besteht aber immer auch die Gefahr der Selbstüberschätzung aus einer derartigen Machtposition. Das aktuelle Problem kann Folge einer deratigen Hybris sein. Fakt ist, JPMorgan hat sich immer auf derartige Geschäfte und Risiken eingelassen.
"Ich frage mich, was die Regulierer bezwecken"
tagesschau.de: Gibt es denn überhaupt noch Großbanken, die der Versuchung zu zocken widerstehen? Oder geht es munter weiter wie vor der Finanzkrise?
Hellmeyer: Die Deutsche Bank, die meine berufliche Karriere in den 80er-Jahren forcierte, hebt sich ab. Hier ist der Eigenhandel deutlich eingeschränkt. Insgesamt ergibt sich jedoch für mich in den vergangenen vier Jahren keine belastbare Tendenz, die eine wirkliche Abkehr von den Modellen vor 2008 erkennen lässt. Banken und Investmentbanken lagern ihren Eigenhandel in Investmentvehikel in den USA aus, die dann noch geringer kontrolliert werden.
Es gibt aber auch Banken, die die volkswirtschaftlichen Funktionen unserer Branche vorleben. Diese Institute haben in der Krise antizyklisch ihre Kreditportfolien erhöht und damit der Stabilisierung der Wirtschaft gedient. Dazu gehören Finanzinstitute, deren Kreditvergabe mehr als 40 Prozent der Bilanzsumme ausmacht. Sparkassen und Volksbanken waren in Deutschland Musterknaben.
Genau diese Institute sollen übrigens jetzt durch Basel III in ihrer klassischen Kreditvergabe, die gar nicht Ausgangspunkt der Krise war, eingeschränkt werden. Biesweilen frage ich mich, was die Regulierer bezwecken oder ob sie willfährig Lobbyisten folgen. Soll noch mehr deutscher Mittelstand an den Finanzmarkt gedrängt werden mit der Folge der Stärkung der Investmentbanken und erhöhter systemischer Risiken?
tagesschau.de: Nun hat sich gerade JPMorgan immer gegen Regulierungen ausgesprochen. Hätten denn damit diese massiven Verluste vermieden werden können?
Hellmeyer: Das lässt sich vor dem unvollständigen Hintergrund der Informationen nicht beantworten. Grundsätzlich gilt jedoch ohne Einschränkung, dass sinvolle Regulierung derartige Eskapaden verhindern hilft.
"Der Kapitalismus ist arrogant geworden"
tagesschau.de: Man hat manchmal das Gefühl, in einer nie endenden Krise zu stecken, Immobilien-, Finanz- und Schuldenkrise. Was müsste ihrer Meinung nach in der internationalen Finanzbranche am dringendsten angegangen werden?
Hellmeyer: Die Beantwortung dieser Frage könnte Bücher füllen. Lassen Sie mich abstrakt antworten: Der Fall des Kommunismus 1990 hat den Kapitalismus arrogant werden lassen. Die Deregulierungen an den Märkten seit 1990 sind zu überprüfen und in weiten Teilen zu revidieren. Die Konzentrationsprozesse im Finanzsektor zu einer global agierenden Finanzaristokratie ohne Verantwortung für nationale Volkswirtschaften sind umzukehren.
Nationale Volkswirtschaften bedürfen verlässlicher Partner in der Finanzwirtschaft und können sich nicht auf globale Spieler verlassen, die sich in der Beliebigkeit der internationalen Möglichkeiten bewegen. Wesentlich ist die Rückkehr zu langfristig orientierten Bilanzierungsstandards. Wirtschaft ist Marathon - diese Krise hat belegt was Marathonläufern im Sprint passiert.
"Wir sind doch keine geistigen Masochisten, oder?"
tagesschau.de: Lassen Sie uns noch einmal nach Deutschland blicken, haben denn die deutschen Banken und Versicherungen genug Lehren aus der Finanzkrise gezogen?
Hellmeyer: Ja und nein. Im Hinblick auf die gestellten Anforderungen lautet die Antwort ja. Im Hinblick auf die Ausformung der Regulierung lautet meine Antwort nein. Es werden durch Basel III & Co. prozyklische Elemente forciert. Das ist systemisch gefährlich. Es fehlt den Eliten ein wenig an Abstraktionsfähigkeit und geistiger Emanzipation gegenüber den Finanzplätzen London und New York. Die Krisen wurden uns in den vergangenen 15 Jahren aus diesen Zentren angedient, wir sind gefolgt. Wir sind doch keine geistigen Masochisten, oder?
tagesschau.de: Was könnte und sollte die Politik denn als erstes angehen?
Hellmeyer: Ich bitte die Politik, die Banken, die ihre volkswirtschaftlichen Funktionen unbestechlich vorleben, in ihren Geschäftsmodellen zu unterstützen und sie von den Kapitalunterlegungen nach Basel III zu befreien. Ich bitte die Politik, sich den Bilanzierungsstandards zuzuwenden. Der Weg muss zurück in Richtung der alten Standards gehen, ansonsten würden die kommenden Generationen förmlich bestraft.
"Kein Rückgrat gegenüber London und New York"
tagesschau.de: Dennoch hat man das Gefühl, die Politik lässt sich eher von den Märkten treiben, als sie noch regulieren zu wollen – woher kommt diese Ohnmacht?
Hellmeyer: Dieses Bild ist sicherlich unvollständig. Fakt ist, dass die Lobby des internationalen privaten Bankgewerbes sehr stark ist. Fakt ist, dass es in Kontinentaleuropa gegenüber London und New York kein Rückgrat gibt. Das erscheint anerzogen zu sein, dabei ist das eine Tendenz, die erst ab zirka 1985 greift. Ich wünsche Europa mehr Selbstbewusstsein auf der politischen Bühne. Dazu gehört es dann eben auch mal die Stimmen im Hintergrund zu hören, die nicht dem "Mainstream" folgen. Das gilt auch für die Macher der öffentlichen Meinung in Talk-Shows.
Das Interview führte Stefan Keilmann, tagesschau.de.