Größter Rückruf von Medizinprodukten Austausch von Philips-Atemgeräten kostet Milliarden
Es ist der größte Rückruf von Medizinprodukten: Millionen Atemgeräte von Philips müssen wegen Gesundheitsgefahren ausgetauscht werden. Doch das geht langsam und ist teuer.
"Das war eine völlig surreale Situation", sagt ein Philips-Mitarbeiter. Damals, im Juni 2021, verschickte Philips eine dringende Sicherheitsmitteilung zu einer ganzen Reihe von Atemgeräten. Sie sollen zu Verletzungen führen können, die "lebensbedrohlich" sein könnten. Für den Philips-Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte, und seine Kollegen war es ein Schock, "eine wahnsinnig emotionale Belastung für uns alle".
Das Problem ist ein Schaumstoff, der verwendet wurde, um die Atemgeräte leiser zu machen. Er kann sich aber offenbar mit der Zeit zersetzen - kleine Partikel können dann von Patientinnen und Patienten eingeatmet werden. Außerdem könne der Schaum "bestimmte Chemikalien freisetzen", hieß es in der Sicherheitsmitteilung von Philips. Der Konzern warnte unter anderem vor einem Krebsrisiko.
Die Sicherheitsmitteilung traf die Mitarbeitenden völlig unvorbereitet. Es habe Chaos geherrscht, sagt der Mitarbeiter im Interview mit dem ARD-Magazin Panorama. Denn betroffen waren etliche Modelle, weltweit insgesamt etwa fünf Millionen Geräte, die zu dieser Zeit im Einsatz waren - und damit etwa ebenso viele Patientinnen und Patienten. Auch in Deutschland waren es Hunderttausende.
Es ist wohl der größte, jemals durchgeführte Rückruf eines Medizinprodukts. Die Geräte wurden teils in Kliniken und Pflegereinrichtungen eingesetzt - oder auch zu Hause bei Menschen, die an Schlafapnoe leiden, also nachts Atemaussetzer haben.
Krank durch Schaumstoffpartikel?
Nermin Ukejnovic ist einer dieser Patienten. 2013 hatte ihm sein Arzt ein solches Philips-Gerät verschrieben. Wegen seiner Atemaussetzer habe er ein hohes Risiko, einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt zu erleiden, erklärte ihm sein Arzt. Ukejnovic nutzte jede Nacht das Atemgerät, jahrelang. Er habe wieder viel besser geschlafen, "wie ein Baby".
Doch mit der Zeit wurde sein Gerät immer lauter, anfangs sei es "ein Summen" gewesen, später "ein richtiges Brummen", erzählt seine Frau Mirjana Ukejnovic. Im Mai 2020 wurde es deshalb ausgetauscht. Damals hätten sie sich noch nichts dabei gedacht - bis im Sommer 2021 die Sicherheitsmitteilung von Philips wegen Problemen mit dem schalldämpfenden Schaumstoff verschickt wurde.
Kurz zuvor wurde bei Nermin Ukejnovic ein Tumor entdeckt, ein sehr seltener Krebs in der Nase. Das Ehepaar hat den Verdacht, das Atemgerät könne die Ursache sein. Die Ukejnovics klagen gegen Philips, wollen eine Entschädigung - auch, weil der Hersteller offenbar Jahre früher von dem Problem mit dem Schaumstoff wusste.
Besteht das Problem schon viel länger?
Hersteller der Geräte ist die Philips-Tochterfirma Philips Respironics in den USA. Laut Daten der US-Gesundheitsbehörde FDA wurde ihr schon 2010 ein Fall gemeldet, bei dem "sich der schalldämpfende Schaumstoff eines Geräts zersetzte und bei dem Patienten Lungenkomplikationen verursachte, die zum Tod führten". Es folgten weitere Meldungen von sich zersetzendem Material oder schwarzen Partikeln.
Aus einem FDA-Bericht geht hervor, dass Philips-Mitarbeiter spätestens Ende 2015 auf das Problem aufmerksam wurden. Interne Mails belegen, dass sie nach der Haltbarkeit des Schaumstoffs fragten. Die Antwort des Herstellers: Es würde ihn "nicht überraschen, wenn der Schaumstoff bereits nach einem Jahr Hydrolyseerscheinungen zeigen würde", sich also allmählich zersetze.
2018 kursierten auch nachweislich Fotos von zerbröseltem Schaumstoff - und ein Manager des Hersteller schrieb auf erneute Nachfrage im Mai 2018: "Wir würden nicht empfehlen, diesen Schaumstoff zu verwenden." Später erklärte er, Philips habe das Material nicht direkt bei ihnen gekauft und zuvor nie gefragt, ob es für solche Geräte geeignet sei.
Rückrufaktion elf Jahre nach der ersten Meldung
Erst Mitte 2021 - elf Jahre nach der ersten nun bekannten Meldung - startete der Konzern den Rückruf. Bei den früheren Fällen, vor 2021, habe Philips Respironics von Fall zu Fall gehandelt, erklärt dazu Steve Klink, Pressesprecher von Philips, im Panorama-Interview. "Als die Muttergesellschaft Anfang 2021 auf das Problem und die mögliche Bedeutung aufmerksam wurde, haben wir keine Mühen und Kosten gescheut, um das Problem zu beheben."
Außerdem, so erklärt es jetzt der Philips-Pressesprecher in Amsterdam, seien nach heutigen Erkenntnissen kaum "nennenswerte Gesundheitsschäden für die Patienten zu erwarten". Das belegten umfangreiche Studien, die seit dem Rückruf in Auftrag gegeben worden seien.
Auch im laufenden Prozess im Fall von Nermin Ukejnovic bestreitet Philips laut Alexander Schäfer, dem Anwalt der Familie, einen Zusammenhang. Es sei "schon sehr merkwürdig", sagt Schäfer, dass der Konzern nun behaupte, das Produkt habe keinen Schaden verursacht, nachdem er die Geräte wegen möglicher Gesundheitsgefahren zurückgerufen hatte. Es droht ein jahrlanger Prozess.
Verkaufsverbot und Vergleich in den USA
Auch für die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA ist es für eine Entwarnung zu früh. In ihrer jüngsten Stellungnahme zu dem Fall vom Oktober 2023 schrieb sie, dass die von Philips vorgelegten Studien-Ergebnisse nicht ausreichten, um die Risiken vollständig bewerten zu können. Insgesamt sei die FDA "nach wie vor unzufrieden mit dem Stand dieses Rückrufs, und wir werden weiterhin Maßnahmen ergreifen, um die Gesundheit und Sicherheit von Personen zu schützen, die diese Geräte verwenden."
Tatsächlich folgte eine harte Maßnahme: Seit Ende Januar 2024 darf Philips in den USA vorerst gar keine Beatmungsgeräte mehr verkaufen. Darauf verständigte sich der Konzern mit den Behörden, um einen Prozess zu vermeiden. Zudem hat Philips Ende April in den USA einem Vergleich in einer Massenklage zugestimmt. Rund eine Milliarde Euro hat der Konzern dafür zugesagt - für aktuell etwa 58.000 Patienten.
"Wir haben beschlossen, den Rechtsstreit mit diesem Vergleich zu beenden", sagt Philips-Pressesprecher Klink. "Wir möchten aber auch klarstellen, dass dies kein Schuldeingeständnis ist. Und wir glauben nicht, dass das Gerät irgendeinen Schaden verursacht hat."
Wohl auch deshalb scheint Philips woanders nicht generell zahlen zu wollen. "In anderen Ländern werden wir von Fall zu Fall entscheiden", erklärt Klink. Aus Sicht von Aktionären scheint der Konzern damit eher günstig davonzukommen. Als der Konzern Ende April den Vergleich in den USA verkündete, schoss der Aktienkurs zwischenzeitlich um mehr als 40 Prozent in die Höhe.
AOK befürchtet Kosten in Millionenhöhe
Zusätzlich zu den Kosten für die Rechtsstreitigkeiten in den USA zahle Philips weltweit etwa 1,5 Milliarden Euro für den Austausch oder die Reparatur von Geräten, sagt Sprecher Klink. Bei fünf Millionen betroffenen Geräten sind das etwa 300 Euro pro Fall. In Deutschland geht die AOK nicht davon aus, dass damit alle Kosten gedeckt sind. Denn allein der Kauf eines Neugeräts ist deutlich teurer. Hinzu kommen die Kosten für einen Klinikaufenthalt, der laut AOK bei vielen Patienten nötig ist, wenn sie auf ein anderes Gerät umgestellt werden. Die Krankenversicherung geht von einem Gesamtschaden von mehreren Milliarden aus.
Betroffen ist auch die AOK selbst: Sie hat für ihre Versicherten viele Geräte gemietet, aber auch einige Tausend gekauft. Nun befürchtet sie, auf den Kosten für die Kaufgeräte und die Klinikaufenthalte sitzen zu bleiben, insgesamt etwa 45 Millionen Euro für die AOK allein. "Philips hat bisher direkte Verhandlungen mit uns über Erstattungen in jedweder Form abgelehnt", sagt Jürgen Malzahn vom AOK Bundesverband. Dabei ist aus ihrer Sicht klar: der Schaden sei durch den Hersteller zu verantworten und sei "nicht in irgendeiner Form durch die Versicherten zu entrichten".
Philips erklärt dazu, das Unternehmen habe seinen Geschäftskunden in Deutschland faire Lösungen angeboten. Die AOK habe aber betroffene Geräte nicht direkt bei Philips oder einer Tochterfirma gekauft, deshalb könne Philips keine Zahlungen an die Krankenkasse leisten.