Bürokratie in Krankenhäusern "Es wird immer mehr statt weniger"
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft schlägt Alarm: Die Bürokratie sei so ausgeufert, dass sie die Beschäftigten von der eigentlichen Arbeit abhalte. Ein Besuch auf einer Intensivstation.
Denny Götze steht vor einem Kühlschrank und liest auf einer Digitalanzeige die Temperatur ab. "Fünf Komma Eins Grad", sagt er und notiert die Zahl in einer Tabelle. Der Pflegerische Bereichsleiter der Intensivstation im Waldklinikum Berlin-Spandau will demonstrieren, welche Vorschriften die Beschäftigten von ihrer eigentlichen Arbeit - der Pflege von Patienten - abhalten. Götze drückt ein paar Knöpfe am Kühlschrank und notiert auch noch die in den vergangenen 24 Stunden gemessene Minimal- und Maximaltemperatur. Dann setzt er seine Unterschrift dahinter.
Mit der Schreibarbeit erfülle er eine amtliche Vorgabe, wie er erklärt. Einmal im Jahr komme der Amtsarzt vorbei und kontrolliere, ob auch wirklich alles sauber aufgeschrieben wurde. Welchen Sinn das habe, sei nicht ganz klar. Der Kühlschrank sei schließlich speziell zum Kühlen von Medikamenten angeschafft worden, schlage sogar Alarm, wenn er ausfallen würde - was noch nie vorgekommen sei.
Denny Götze ist Pflegerischer Bereichsleiter auf der Intensivstation. Dokumentationspflichten nehmen einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit in Anspruch.
14 Mal die Temperatur notieren
Die Bürokratie koste wertvolle Arbeitszeit, so Götze: "Im Bereich der Anästhesie sind es elf Kühlschränke, die wir jeden Tag so kontrollieren, und hier im Bereich der Intensivstation drei Kühlschränke."
Götze führt weiter in ein derzeit leeres Patientenzimmer. Der Raum ist vollgestellt mit Technik und medizinischen Geräten. An einem Monitor zeigt er, wie viele Daten an einem Tag für nur einen Patienten erhoben, eingepflegt und kontrolliert werden müssen. Vieles übernehme die Technik automatisch, aber gerade die Kontrolle passiere von Hand.
27 Seiten pro Patient und Tag
"Wir haben Hunderte Datenpunkte pro Patient pro Tag", sagt Götze und klickt durch die Bedienfenster. "27 Seiten in der Druckversion". Vieles davon sei medizinisch nützlich, manches reine Formsache. Und alles koste Zeit. Erfasst werden auch scheinbare Kleinigkeiten: "Patient liegt links, Patient liegt rechts", liest Götze vor. Manche Datenpunkte werden stündlich erfasst. "Wenn man einen Patienten hat, der stabil ist, stellt sich die Frage, ob das wirklich so sein muss."
Ein Stockwerk tiefer sitzt Pflegedirektorin Andrea Lemke hinter einem Doppelbildschirm und erzählt, was es bedeutet, wenn der Medizinische Dienst der Krankenkassen eine "Strukturprüfung" durchführt. Das bedeutet im Grunde, dass das Krankenhaus nachweisen muss, dass es alle Voraussetzung erfüllt um beispielsweise eine Kinderfrühgeborenenstation betreiben zu dürfen.
So ein Vorgang binde mehrere Führungskräfte und Mitarbeiter, die in dieser Zeit nichts anderes machen könnten. Lemke: "Die Vorbereitungszeit mit allen Beteiligten beträgt allein mehrere Tage." Jeder einzelne Arbeitsvertrag, jede Approbation, jeder Weiterbildungsnachweis müsse vorgelegt werden. Und: so eine Strukturprüfung wiederhole sich alle paar Jahre.
Drei Arbeitsstunden pro Tag pro Vollzeitkraft
Hinzu kämen weitere Bürokratieauflagen, die das Personal mittlerweile das ganze Jahr über beschäftigten. Neulich habe sie aus Interesse mal bei der Controlling-Abteilung angefragt, wie viele unterschiedliche Prüfungen und Nachweisvorgänge es gebe: "Wir haben mittlerweile 46 Datensätze, die wir pro Jahr irgendwohin transportieren müssen, zu unterschiedlichsten Zeiten."
Seit Jahren werde über Entbürokratisierung geredet. Lemke schaut sparsam: "Mein Eindruck und der der meisten Kollegen ist hier so: Es wird immer mehr anstatt weniger." Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) beziffert den Aufwand, der für Bürokratie betrieben wird, auf durchschnittlich drei Arbeitsstunden pro Tag pro Vollzeitkraft.
Der DKG-Vorsitzende Gerald Gaß: "Die Zahlen sind erschütternd. Drei Stunden pro Tag entsprechen 116.600 von knapp 343.000 Vollkräften." Nach dieser Rechnung arbeitete also circa jede dritte Pflegekraft nur für die Bürokratie. Die DKG hat konkrete Vorschläge gemacht, wie die Papier- und Datenflut eingedämmt werden könne. Daten sollten nicht mehr doppelt abgefragt, Vorschriften sollten vereinfacht werden, die immer gleichen Prüfungen seltener erfolgen.
Richtlinien müssen gekannt, umgesetzt und erfüllt werden
Im Waldkrankenhaus Spandau muss Chefarzt Stephan-Matthias Reyle-Hahn lachen, wenn er erzählen soll, welche Vorgaben seine Klinik für Anästhesie und interdisziplinäre Intensivmedizin einhalten muss. Allein die Richtlinie für die Strukturprüfung des MDK habe es in sich. "So eine Richtlinie hat ja 590 Seiten, und eine ganze Abteilung ist eigentlich damit beschäftigt, diese Strukturmerkmale und die Richtlinien zu kennen, umzusetzen, zu erfüllen."
Wenn das Krankenhaus einzelne Richtlinien - auch nur zeitweise - nicht erfülle, drohten Leistungsstreichungen. Sprich: Dann zahlten die Krankenkassen weniger Geld. Die Begründung: Durch Verstöße gegen die Dokumentationspflichten sei eben nicht mehr sichergestellt, dass die Klinik die vorgegebenen Qualitätsstandards erfülle.
Reyle-Hahn fasst den Verdacht, den viele im Krankenhaus hätten, so zusammen: "Das Gefühl der Arbeitenden und beteiligten Ärzte und Pflegekräfte ist: Es geht nicht um die Frage, ob wir die Qualität erfüllen, sondern eher um die Suche nach Schwachstellen, um bestimmte Leistungen, die uns eigentlich zustehen, nicht erfüllen zu müssen."
Permanenter Kostendruck verursacht ausufernde Bürokratie
Der Chefarzt kann vorrechnen, dass das deutsche Gesundheitssystem im europäischen Vergleich nicht nur zu den besten, sondern auch zu den teuersten gehöre. Eigentlich sei aber dennoch zu wenig Geld im System, um die Krankenhauslandschaft in dieser Breite zu unterhalten. Die Folge: permanenter Kostendruck, der sich indirekt auch in ausufernden Vorschriften zeige. Hinzu käme dann noch der allgemeine Drang zu immer mehr Regelungen und Normen.
Am anderen Ende der Klinik steht Pflegebereichsleiter Götze vor einem weiteren Kühlschrank. Wieder notiert er die Temperaturen der vergangenen 24 Stunden. Welche Sanktionen drohten, wenn man es einfach mal nicht täte, wisse er nicht: "Da sind wir auch im vorausschauenden Gehorsam unterwegs, das wollen wir nicht drauf ankommen lassen", sagt Götze und geht weiter zum nächsten Kühlschrank.