Inklusion und Teilhabe Sind Behindertenwerkstätten gerecht?
Behindertenwerkstätten stehen derzeit massiv in der Diskussion. Der Vorwurf: schlechte Bezahlung und mangelhafte Inklusion. Kritiker fordern die Abschaffung der Werkstätten.
Katrin Langensiepen sitzt seit zwei Jahren für die Grünen im Europaparlament in Straßburg und Brüssel. Langensiepen kämpft für Inklusion, für die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung in Beschäftigung und Beruf. "Deutschland schneidet beim Thema Inklusion europaweit schlecht ab. Nach der Grundschule hört die Inklusion hierzulande leider auf", sagt sie im Interview mit tagesschau.de.
Das Recht von Menschen mit Behinderung auf selbstbestimmte Arbeit, von der sie leben könnten, werde in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt - obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention dies seit mehr als zehn Jahren fordere. Teil des Problems seien die Behindertenwerkstätten, so Langensiepen. Deshalb fordert sie ein Umdenken und einen konkreten Ausstiegsplan aus der Beschäftigung in den Werkstätten.
Keine echte Chance auf dem "ersten Arbeitsmarkt"
Deutschlandweit werden etwa 320.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten beschäftigt - ohne Anspruch auf Mindestlohn. Im Durchschnitt verdienen sie dort etwa 220 Euro im Monat, so die jüngste Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Werkstätten sind verpflichtet, 70 Prozent vom Arbeitsergebnis an die Mitarbeitenden auszuschütten.
In den Werkstätten Hainbachtal in Offenbach sind es sogar 90 Prozent des Gewinns. Dennoch bleibt den Mitarbeitern nicht viel. Christa Kaiser bekommt 200 Euro plus Erwerbsminderungsrente bei 35 Wochenstunden. Seit 20 Jahren arbeitet die leicht behinderte 49-Jährige in der Einrichtung für Menschen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung. Sie lebt allein und selbstständig. Am Ende des Monats bleiben ihr 100 Euro, sagt sie. Obwohl sie sich wohl fühlt in der Wäscherei, würde sie sofort woanders arbeiten, außerhalb der Behindertenwerkstätten, wenn sie dort mehr verdienen würde und ihre Rente gesichert wäre.
Christian Sobtke hat seine Ausbildung in einem normalen Betrieb gemacht. Sein Chef sei mit seinen Einschränkungen nicht klargekommen, sagt er. Nach der Ausbildung war er zwei Jahre arbeitslos, bevor er nach Hainbachtal kam. Das ist jetzt 14 Jahre her. Immer wieder hat er versucht, die Werkstätten zu verlassen. Immer wieder ist er gescheitert und kam zurück. Durch interne Leistungsprämien kommt er auf 590 Euro im Monat. Für seine Arbeit würde er gerne Mindestlohn bezahlt bekommen, das fände er gerecht.
Behindertenwerkstätten als geschützter Raum
Gesetzlicher Mindestlohn oder höhere Grundbeträge: Es gibt unterschiedliche Denkrichtungen seitens Politik oder Interessenverbänden, die sich derzeit damit beschäftigen, wie Menschen mit Behinderung in Werkstätten künftig bezahlt werden. Der EU-Politikerin Langensiepen gehen diese Überlegungen nicht weit genug. "Wir müssen grundsätzlich hinterfragen, welches Bild wir in der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung haben. Hören wir doch endlich damit auf, den Menschen zu sagen: 'Sei doch dankbar, du hast es doch gut hier in den Werkstätten'."
"Wo will ich arbeiten?" - Auswahl und Entscheidung, Konflikte und Scheitern am Arbeitsplatz: alles Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung vorenthalten bleiben. Das müsse sich ändern. Integriert, gemeinsam mit Nicht-Behinderten: Das sei zeitgemäß. Geschlossene Einrichtungen lehnt Langensiepen grundsätzlich ab und fordert Mindestlohn und einen schrittweisen Ausstieg aus dem System der Werkstätten.
Das sich etwas ändern muss, sieht auch Frank Hofmann. Er ist Geschäftsführer der Werkstätten Hainbachtal. Aber: "Was passiert mit den Menschen, die nicht stark genug sind, die sich nicht so artikulieren können, die vielleicht nicht diese Leistung erbringen können? Haben die auch einen Platz in der Gesellschaft?" Dass sich die Werkstätten weiterentwickeln und reformieren müssen und die Bezahlung transparenter sein muss, hält er für richtig und wichtig. In Hainbachtal schaffen ein bis zwei Mitarbeiter pro Jahr den Sprung auf den "ersten Arbeitsmarkt". Das sei einfach zu wenig.
Ampelkoalition will Reform des Systems
Leonardo Stiplovsek hat den Sprung geschafft. Er hat einen angeborenen Chromosom-Defekt und arbeitet in der Molkerei-Abteilung eines Supermarktes. Festangestellt mit 30 Stunden die Woche, verdient er genau so viel wie nichtbehinderte Mitarbeitende - auch dank eines Zuschusses des Landeswohlfahrtsverbands Hessen. Leonardo fühlt sich anerkannt, er verdient sein eigenes Geld; darauf sind er und seine Familie stolz.
Selbstbestimmt, integriert, das ist es, was auch Langensiepen will. "Wir müssen dringend über Konzepte, über das Raus aus den Behindertenwerkstätten reden", sagt sie. "Junge Menschen mit Behinderung wollen eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben. Sie wollen nicht morgens mit Fahrdienst in Werkstätten gefahren und nachmittags wieder abgeholt werden." Da müsse es einfach mehr geben. Dies hat sich auch die Ampelkoalition zum Ziel gesetzt. Im Koalitionsvertrag verspricht sie, die Angebote der Werkstätten stärker auf Inklusion und mit Blick auf den allgemeinen Arbeitsmarkt auszurichten.