Interview

Wie groß ist der Reformstau in Frankreich? "Hollande ist kein Schröder"

Stand: 20.10.2014 16:31 Uhr

Frankreich drängt auf Hilfe aus Deutschland, um die heimische Wirtschaft zu stärken. Der Frankreich-Experte Henrik Uterwedde zeigt im Interview mit tagesschau.de Verständnis für die Forderung, auch wenn die Probleme des Landes hausgemacht sind. Präsident Hollande wage einiges, doch ihm fehle die Entschlossenheit eines Gerhard Schröder.

tagesschau.de: Frankreichs Premier Manuel Valls hat vor einem Monat eingeräumt, Frankreich habe 40 Jahre über seine Verhältnisse gelebt. Auf welchen Gebieten hat es notwendige Reformen versäumt?

Henrik Uterwedde: Premier Valls hat recht und er ist der erste Politiker, der diese Wahrheit ungeschminkt ausspricht. Es hat zwar immer wieder Reformen gegeben, aber es waren nur Teilreformen. Größere Strukturreformen wurden nicht angegangen.

Ein Beispiel: Frankreich leistet sich einen Staats- und Verwaltungsapparat, der zu den größten in Europa gehört. Jeder vierte Franzose arbeitet im Öffentlichen Dienst. Dennoch ist die Verwaltung nicht besonders effizient. Das hängt unter anderem mit der Territorialstruktur des Landes zusammen. Es gibt auf der einen Seite den Zentralstaat, auf der anderen Seite drei Gebietskörperschaften: die Regionen, Departements und Kommunen. Hier gibt es keine klare Hierarchie und einen Wildwuchs an doppelten und dezentralen Strukturen - und übrigens auch einen Wildwuchs an Wirtschaftssubventionen. Deswegen hat sich die Regierung Valls jetzt vorgenommen, eine Reform der Territorialstruktur durchzuführen - eine Großaufgabe.

Zur Person
Prof. Henrik Uterwedde ist Stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg. Zu seinen Schwerpunkten gehört die französische Wirtschaft und die europäische Wirtschaftsintegration.

tagesschau.de: Auch Frankreichs Arbeitsmarkt steht im Ruf, unter seinen Vorschriften und Regeln zu ersticken. Wie stark ist er reglementiert?

Uterwedde: Frankreichs Arbeitsmarkt ist überreguliert. Das führt zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes. Wer einen Arbeitsplatz hat, genießt einen hohen Kündigungsschutz. Deswegen schaffen immer mehr Unternehmen prekäre Arbeitsverhältnisse. Der Anteil der Beschäftigten ohne unbefristeten Arbeitsvertrag ist deutlich gewachsen. Hollande hat im vergangenen Jahr eine kleine Reform versucht und Arbeitgeber und Gewerkschaften aufgefordert, Konturen eines flexibleren Arbeitsmarktes auszuhandeln. Das ist zwar in Ansätzen geschehen, es haben aber nur zwei von vier großen Gewerkschaften mitgemacht.

tagesschau.de: Wie wettbewerbsfähig sind denn die französischen Unternehmen?

Uterwedde: Die Belastung der Unternehmen durch Steuern und Abgaben ist im europäischen Vergleich zu hoch. Zugleich erzielen sie - auch im europäischen Vergleich - zu geringe Erträge. Das hat dazu geführt, dass sie nicht genug in Forschung und Entwicklung investieren, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.

tagesschau.de: Der Staat hat ja traditionell die großen Unternehmen gestärkt und hat den Markt auch gegen Beteiligungen oder Übernahmen aus dem Ausland möglichst abgeschottet. Hat auch das der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen geschadet?

Uterwedde: Die französische Wirtschaftspolitik hat in der Tat seit Jahrzehnten ein Faible für die großen Konzerne und diese auch im Zweifelsfall gegen Übernahmen geschützt. Denen geht es, wenn man sich den Aktienindex anschaut, gut - auch im internationalen Wettbewerb. Zudem gibt es viele kleine Unternehmen, auch die Zahl der Unternehmensgründungen ist gut. Dazwischen aber klafft eine riesige Lücke. Es hat keine Mittelstandspolitik gegeben, wie wir sie aus Deutschland kennen. Unfreundliche Rahmenbedingungen verhindern, dass es Unternehmen gibt, die ein paar Jahre nach ihrer Gründung ein gutes Wachstum aufweisen und kontinuierlich größer werden.

tagesschau.de: Ist der fürsorgliche französische Sozialstaat in diesem Zusammenhang ein weiteres Hindernis oder macht er den Standort attraktiver?

Uterwedde: Hohe Sozialausgaben sind nicht grundsätzlich ein Problem. Man muss nur gewährleisten, dass die Leistungen stimmen und die Finanzierung gesichert ist. Die familienpolitischen Leistungen Frankreichs können sich sehen lassen und sind gewiss ein Grund für die dynamische Bevölkerungsentwicklung des Landes. Andererseits hat man dieses breite Angebot vor allem aus dem Faktor Arbeit finanziert, also durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Und das verteuert die Arbeitskosten.

tagesschau.de: Valls hat angekündigt, seine Regierung beabsichtige in den kommenden drei Jahren 50 Milliarden Euro einzusparen und 40 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung zu stellen. Ist das der richtige Weg?

Uterwedde: Die zweite Maßnahme soll die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken, indem sie von Steuern und Sozialabgaben entlastet werden. Dieser beträchtliche Betrag muss aber erst einmal bei den Unternehmen ankommen. Die Hoffnung der Regierung ist, dass dann schnell Arbeitsplätze geschaffen werden. Nur geht das nicht so schnell. Die Maßnahme ist dennoch richtig.

tagesschau.de: Für wirksame Reformen braucht die Regierung den Rückhalt der Bevölkerung und Zeit - hat sie beides?

Uterwedde: Wir erinnern uns an die Proteste gegen die Hartz-Reformen in Deutschland. Die Montagsdemos dürften ein laues Lüftlein sein mit dem, was Hollande entgegenblasen wird. Frankreich hat eine andere Protestkultur. Die Polarisierung und ideologische Aufladung sind so stark, dass ein nationaler Kompromiss etwa in der Rentenpolitik fast undenkbar ist. Der Konflikt zwischen Rechts und Links überlagert alles. Hinzu kommt, dass der linke Flügel der Sozialisten die Reformen ablehnt. Und die Popularität des Präsidenten ist stark gesunken. Das Reformprojekt startet also in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Regierung gegen Null tendiert.

tagesschau.de: Die Voraussetzung für einen Reformkurs sind damit denkbar schlecht.

Uterwedde: Hollande ist bis 2017 gewählt und kann nicht abgewählt werden. Die Regierung kann nur hoffen, dass bis dahin erste Erfolge sichtbar werden. Natürlich kann Hollande trotzdem das Schicksal von Gerhard Schröder blühen. Der ist trotz und wegen seiner Reformpolitik abgewählt worden. Heute loben alle seine Politik, obwohl niemand in der heutigen Koalition wagen würde, ein Projekt von ähnlicher Dimension auch nur in Angriff zu nehmen. Wenn Hollande und Valls aber nichts tun, dann geht es ihnen wie Werder Bremen am vergangenen Wochenende in München: Dann verliert man auch. Und irgendwann ist der Trainer weg.  

tagesschau.de: Das heißt aber auch, dass Hollande nicht ganz so zögerlich ist, wie er in manchen Kommentaren dargestellt wird.

Uterwedde: Hollande ist vom Naturell her kein Schröder. Hollande hat sich dagegen entschieden, Reformen stur durchzuziehen, sondern versucht, die Beteiligten einzubinden. Er geht die vielen anstehenden Maßnahmen Schritt für Schritt an, anders als Sarkozy, der jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben hat. Dafür habe ich Verständnis. Sein Problem bleibt, dass er den Franzosen nie reinen Wein eingeschenkt hat. Schröder ist im März 2003 vor das Parlament getreten, hat die Dramatik der Lage und die erforderlichen Einschnitte geschildert, aber auch Perspektiven aufgezeigt. Hollande hat nie Klartext geredet und sitzt deshalb nun zwischen allen Stühlen.

tagesschau.de: Frankreich schaut in der Debatte über die Wirtschaftspolitik auch nach Deutschland und verlangt von der Bundesregierung, mehr für das Wachstum in Europa zu tun. Frankreichs Wirtschaftsminister hat vorgeschlagen, dass Deutschland  in den kommenden drei Jahren seine Investitionen im gleichen Maße erhöht wie Frankreich Einsparungen vornimmt. Ist das ein sinnvoller Vorschlag?

Uterwedde: Ökonomisch ist das Unsinn - 90 Prozent der französischen Probleme sind hausgemacht und haben nichts mit der deutschen oder europäischen Sparpolitik zu tun. Politisch macht es sich natürlich besser, wenn zu harten Reformen im Inland ein Investitionsprogramm des deutschen Partners kommt. Obendrein schaut man in Frankreich empfindlich darauf, ob Hollande und Valls noch eigenständig handeln oder im Schlepptau von Merkel hängen. Natürlich wird es einen solchen Deal nicht geben - Frankreich ist ja auch gar nicht in der Lage, hierüber zu verhandeln. Aber wenn das Vertrauen zwischen beiden Seiten da ist, könnte die Bundesregierung durchaus ein Investitionsprogramm rechtfertigen - um guten Willen in Europa und gegenüber Frankreich zu zeigen, aber auch um die eigenen Probleme anzugehen. Ein Investitionsprogramm ist auch ohne die französischen Sorgen nötig. Beide Staaten müssen ihre Politik ändern.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de