Ex-EZB-Präsident Trichet "Wir sind verwundbarer"
In den 25 Jahren seit Gründung der EZB blieb die Euro-Inflationsrate die meiste Zeit in der Nähe der Zielmarke von zwei Prozent. Zuletzt lief die Teuerung aus dem Ruder. Über die Gründe spricht der frühere EZB-Präsident Jean-Claude Trichet im Interview.
tagesschau.de: Herr Trichet, heute vor 25 Jahren wurde die Europäische Zentralbank gegründet. Sie waren acht Jahre Präsident dieser Institution, auch in turbulenten Zeiten. Wenn Sie Bilanz ziehen: Wie hat sich die EZB in dieser Zeit entwickelt?
Jean-Claude Trichet: In dieser Periode, die ja ein Vierteljahrhundert umfasst, haben wir gezeigt, dass wir erstens die Verantwortung, die uns der EU-Vertrag gegeben hat, erfüllt haben. Das oberste Mandat ist, Preisstabilität zu gewährleisten. Wenn ich mir die jährliche Inflationsrate seit dem Beginn des Euro bis jetzt ansehe, dann haben wir erreicht, was wir der Bevölkerung, also den Menschen in der Eurozone, versprochen haben, nämlich Preisstabilität. In dieser Zeit war die durchschnittliche Inflationsrate des Euro besser, als die beste durchschnittliche Inflationsrate der vorherigen Einzelwährungen in den 40 Jahren vor Einführung des Euro. Das ist fast paradox, wenn man dieses Ergebnis mit den Erwartungen von damals vergleicht. Die waren nämlich sehr negativ und pessimistisch.
Zweitens mussten wir uns in meiner Amtszeit mit der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, also mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und der Immobilien- und Finanzkrise auseinandersetzen. In dieser Krise hat die EZB große Widerstandsfähigkeit bewiesen.
Und drittens haben wir bewiesen, dass das große europäische Integrationsprojekt im Bereich der Währungen, also die Europäische Währungsunion, sich sehr erfolgreich entwickelt hat. Als ich mein Amt in dieser Institution aufnahm, da waren wir zwölf Mitgliedsstaaten. Als ich ging, waren wir 17. Und heute sind wir 20. Ganz am Anfang waren es elf. Also diese Erweiterung von elf auf 20 beweist, dass Europa etwas sehr Mächtiges zugrunde liegt. Und das alles unter extrem schwierigen Bedingungen. Das ist die größte Belohnung für die EZB selbst, also für diejenigen, die aus der EZB das gemacht haben, was sie heute ist, und für diejenigen, die derzeit die Verantwortung innehaben. Die Menschen in Europa unterstützen uns. Ich bin absolut beeindruckt zu sehen, dass heute 79 Prozent der Bevölkerung in der Eurozone Vertrauen in uns, Vertrauen in den Euro haben. Dies verglichen mit der Skepsis zu Beginn, nicht nur hier, auch in den USA und in Großbritannien. Das ist wirklich die größte Belohnung in einer Demokratie.
Eine Krise nach der anderen
tagesschau.de: Wie stark war denn diese Skepsis in Ihrer Amtszeit ausgeprägt?
Trichet: Sehr ausgeprägt. Unsere Mitbürger waren damals noch nicht überzeugt, dass wir es tatsächlich erreichen würden, Preisstabilität abzuliefern. Für sie war es ein neues Unterfangen, das von Null begann - was es ja auch war -, und sie erwarteten, dass wir unsere Versprechen nun auch wirklich einlösen würden. Und dann gab es die sogenannte Subprime-Krise, also die Immobilienkrise in den USA, die Finanzkrise mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, die Staatschulden-Krise, alles in meiner Amtszeit. Mein Nachfolger Mario Draghi musste sich dann mit der möglichen Gefahr von Deflation auseinandersetzen, da gab es sehr starke Entwicklungen in diese Richtung ständig sinkender Preise, nicht nur in Europa, sondern auch im Rest der Welt. Und (die heutige EZB-Präsidentin, Anm. der Redaktion) Christine Lagarde hatte nicht nur damit, sondern zusätzlich auch noch mit den Folgen der Corona-Krise zu kämpfen. Mario, Christine und ich, wir hatten enorme Schwierigkeiten und Herausforderungen zu bewältigen, die nicht rein europäischer Natur, sondern weltweite Phänomene waren. Und wir haben bewiesen, dass die EZB widerstandsfähig ist.
Die früheren Notenbankchefs Mario Draghi (rechts) und Jean-Claude Trichet mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde beim Festakt zum 25-jährigen Bestehen der EZB in Frankfurt.
tagesschau.de: Viele Kritiker haben damals nicht erwartet, dass der Euro und die EZB erfolgreich sein würden. Was sagen Sie ihnen heute 25 Jahre später?
Trichet: Wir haben etwas begonnen, was vorher weltweit noch nie ausprobiert wurde. Es war eine wirkliche Premiere, nämlich wichtige Währungen wie die D-Mark, den französischen Franc, die italienische Lira und all die anderen zu vereinigen. Man hat das alles zusammengeführt und gesagt, diese Währung, die da rauskommt wird genauso gut wie die beste der Einzelwährungen. Unter den besten war natürlich die D-Mark. Wir haben das geschafft. Das ist wirklich ein großer Erfolg.
EZB hat Zinsen zuletzt sieben Mal erhöht
tagesschau.de: Hat sich der Charakter der EZB angesichts der Bewältigung der vielen Krisen geändert?
Trichet: Ich denke nicht. Seit wir begonnen haben und auch heute ist unser Ziel, Preisstabilität abzuliefern. Dieses Mandat hat Priorität. Angesichts der widrigen Umstände musste die EZB aber auch beweisen, dass sie ein Anker der Stabilität ist, nicht nur der Preisstabilität, sondern auch der Finanzstabilität. Darüber hinaus soll sie sich auch als gute Institution aufführen, die der Bevölkerung dient. Der EU-Vertrag verlangt, dass wir zuallererst Preisstabilität erreichen müssen. Wenn die erreicht ist, können wir auch andere Ziele der Europäischen Union unterstützen, etwa die Wirtschaft unterstützen. Das ist möglich, aber erst, wenn wir Preisstabilität geliefert haben.
tagesschau.de: Wenn wir uns den gesamten Zeitraum der 25 Jahre anschauen, dann hat die EZB dieses Ziel einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate von etwa zwei Prozent erreicht. Wenn wir nur auf die vergangenen Jahre schauen, dann ist die Inflation aber deutlich höher und hat zeitweise Rekordstände von bis zu rund zehn Prozent erreicht. Hat die EZB Schwere und Hartnäckigkeit dieser Inflationsentwicklung unterschätzt?
Trichet: Nun, zum einen müssen sich alle entwickelten Wirtschaftsräume in der Welt mit diesem Inflationsschub auseinandersetzen, der plötzlich stark zurückgekommen ist, nachdem wir rund zehn Jahre lang eher deflationären Druck hatten. Zum anderen, wenn ich die Notenbanken in den USA, Europa und all den anderen Ländern vergleiche, dann hat die Europäische Zentralbank einen guten Job gemacht. Sie musste erst sicherstellen, dass es sinnvoll war, zu handeln. Denn der Angebots-Schock, also der Mangel an ausreichendem Angebot, war in Europa viel größer als in den USA. Dies zum einen wegen des Krieges gegen die Ukraine, aber auch, weil wir verwundbarer sind. Denn in Europa verfügen wir nicht über ausreichende Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln. Das ist also ein spezielles Problem in Europa. Als die EZB sich dann entschlossen hat zu handeln, hat sie die Zinsen sieben Mal erhöht und mehrmals sehr heftig. Natürlich gibt es immer Kritik. Die einen sagen, sie tut zu wenig, die anderen finden, es sei zu viel. Ich denke, der EZB-Rat hat sehr angemessen und richtig reagiert.
"EZB wird zwei Prozent Inflation mittelfristig erreichen"
tagesschau.de: Einige Kritiker sagen, die EZB war zu zögerlich.
Trichet: Nein. Ich stimme dem Argument nicht zu. Zum einen, musste die EZB erst evaluieren, ob der Angebots-Schock und der Nachfrage-Schock anhaltend waren oder nicht. Und wie gesagt, der Angebots-Schock war in Europa größer als in den USA. Und das ist ein sehr wichtiger Aspekt, den man beachten muss. Zweitens musste die EZB erst einmal deutlich machen, dass sie ihre Forward Guidance ändern würde - also die Orientierungshilfe für Marktteilnehmer, wie die EZB handeln würde, die in der Zeit des deflationären Drucks eingeführt wurde. Das hat natürlich etwas Zeit gekostet, um alle Investoren und Sparer zu warnen und deutlich zu machen, dass es jetzt eine neue Situation in der Welt gibt. Aber als das vollzogen war, war die EZB sehr schnell und hat die Zinsen zügig angehoben. Wenn man die Gesamtsituation betrachtet, dann haben sie das sehr gut gemacht.
tagesschau.de: Wie zuversichtlich sind Sie, dass wir in der Eurozone wieder niedriger Inflationsraten erreichen?
Trichet: Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zunächst auf etwas Wichtiges hinweisen: Die EZB definiert Preisstabilität in der Form, dass die Inflationsrate auf mittelfristige Sicht bei zwei Prozent liegen soll. Die US-Notenbank hat dasselbe Ziel, auch die britische und die japanische Notenbank. Doch wir waren die Ersten, die mit dieser Definition begonnen haben. Das Zwei-Prozent-Ziel wurde am Anfang nur von der EZB verkündet. Dann sind die anderen gefolgt. Das ist wichtig, denn es bedeutet etwas: Alle vier sind Notenbanken von G7-Ländern, die konvertierbare Währungen herausgeben und einen Platz im Herzen des internationalen Geld-Systems, also im Währungskorb des Internationalen Währungsfonds haben. Sie sind jetzt auf derselben Ebene und steuern mittelfristig zwei Prozent Inflation an. Das ist die wichtigste Reform, die es in der internationalen Währungsordnung seit dem Abbau des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er-Jahre faktisch gegeben hat. Und ich bin stolz, wie auch Christine und Mario, dass dies hier in der EZB begonnen hat und jetzt in der Welt verankert ist. Ich bin mir sicher, dass die EZB und die anderen Zentralbanken mittelfristig zwei Prozent Inflation wieder erreichen werden - zum Wohl der Menschen und um der Stabilität willen. Preisstabilität ist besonders wichtig für die arme Bevölkerung, denn sie kann sich nicht gegen Inflation schützen.
tagesschau.de: Jetzt ist die EZB ein Vierteljahrhundert alt. Werden wir angesichts der vielen Probleme auch das 50-jährige Jubiläum sehen?
Trichet: Ja, natürlich! Ich kann es nur noch einmal unterstreichen: Die Erweiterung der Eurozone von elf auf 20 Mitglieder ist ein wichtiger Teil des europäischen Projektes. Es ist völlig klar, dass dieses Projekt weiter gehen wird. Die Europäer wollen auf der weltweiten Bühne mitspielen und nicht ignoriert werden. Die EZB wird ihren 50. Geburtstag feiern und die europäische Vereinigung wird in den nächsten 25 Jahren sehr viele Fortschritte machen. Da bin ich mir ganz sicher.
Das Gespräch führte Klaus-Rainer Jackisch, hr