Kolumne Euroschau Weichenstellung für Kurswechsel?
Der Kurs der lockeren Geldpolitik von EZB-Chef Draghi ist vielen ein Dorn im Auge. Bei der EZB-Ratssitzung in Tallinn könnten die Währungshüter allerdings einen Mini-Schritt Richtung Kurswechsel wagen.
Eine Stadt wie aus dem Bilderbuch: gotische Turmspitzen, kurvenreiche Straßen aus Kopfsteinpflaster und aufwendig restaurierte Kaufmannshäuser in bunten Farben. Das ist Tallinn, die Hauptstadt Estlands, und eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Orte Nordeuropas. Einst lebten hier wohlhabende Kaufleute aus Deutschland, Dänemark und anderen Ländern. Das war zur Zeit der Hanse, als Tallinn, auch bekannt unter dem Namen Reval, seine Blütezeit erlebte. Doch auch heute erstrahlt die Stadt am finnischen Meerbusen in voller Pracht, vor allem im Sommer, wenn die Nächte kurz sind und es kaum dunkel wird.
In dieser Idylle trifft sich der EZB-Rat in dieser Woche zu seiner diesjährigen auswärtigen Sitzung. Ganz harmonisch wird es dort allerdings nicht zugehen. Denn die Lager zwischen Falken und Tauben unter den Notenbankern prallen immer stärker aufeinander. Die Falken wollen möglichst bald eine Straffung der geldpolitischen Zügel. Doch sie sind in der Minderheit. Die Tauben glauben, die lockere Geldpolitik habe ihre volle Wirkung noch nicht entfaltet. Sie haben das Sagen im EZB-Rat.
Wirtschaft im Euroraum hat sich erholt
Dennoch wird EZB-Präsident Mario Draghi wohl erstmals nicht um eine Diskussion herum kommen, ob und wann eine Änderung der lockeren Geldpolitik ansteht. Denn die Wirtschaft im Euroraum hat sich in den vergangenen Monaten deutlich erholt und dürfte auch weiter anziehen. Und im Gastland Estland, das 2011 dem Euro beigetreten ist und Anfang Juli für ein halbes Jahr die EU-Präsidentschaft übernehmen wird, läuft ohnehin fast alles rund.
Seit der Unabhängigkeit von Russland 1991 hat das nördlichste der baltischen Länder einen erstaunlichen Entwicklungssprung gemacht. Einst eines der Armenhäuser Europas, verzeichnet Estland jährliche Wachstumsraten von rund fünf Prozent und überwand auch die Finanzkrise blitzschnell. Das dynamische, liberale und technikoffene Land setzt dabei voll auf die Digitalisierung und gilt in diesem Bereich als eines der fortschrittlichsten weltweit. Allerdings gibt es wirtschaftlich große Unterschiede zwischen den Regionen. Für die kommenden Jahre gehen die Wachstumsprognosen auch etwas nach unten. Dennoch schauen die Esten mit Stolz auf die relativ geringe Arbeitslosenquote von rund 6,7 Prozent und auf eine Staatsverschuldung, die anderen Ländern Tränen in die Augen treibt: Sie liegt bei nur etwa zehn Prozent.
Draghi will am eingeschlagenen Weg festhalten
Von dieser Dynamik und solchen Zahlen können viele südeuropäische Staaten weiterhin nur träumen. Das ist auch der Grund, weshalb sich die Tauben im EZB-Rat schwer tun, den geldpolitischen Kurs zu ändern. Erst vor wenigen Tagen machte Draghi deutlich, es sei weiterhin ein "außergewöhnliches Ausmaß an geldpolitischer Unterstützung" notwendig. Tatsächlich ist die Inflationsentwicklung im Euroraum wieder rückläufig. Sie lag im Mai bei nur 1,4 Prozent und damit wieder weiter entfernt vom angepeilten Ziel von knapp zwei Prozent. Auch die Kerninflation, bei der die Energiepreise heraus gerechnet werden, stagnierte bei nur etwa einem Prozent - alles Gründe, so Draghi, am eingeschlagenen Weg festzuhalten.
Dennoch könnte die Sitzung in Tallinn als erster Wendepunkt der lockeren Geldpolitik in die Geschichtsbücher eingehen. Erwartet wird, dass die EZB ihre Wortwahl bei der Abfassung der Schlusserklärung verändert. Seit Jahren werden die wirtschaftlichen Risiken für den Euroraum als hoch eingeschätzt. Dieses Mal, so heißt es aus Insider-Kreisen, dürften die Risiken als "ausgeglichen" eingestuft werden, weil die Gefahren deutlich nachgelassen haben. Dies wäre eine Anerkennung, dass sich die wirtschaftliche Lage im Euroraum gebessert hat. Möglicherweise wird auch der Hinweis gestrichen, dass im schlimmsten Fall eine noch expansivere Geldpolitik notwendig sei. Auch dies ist ein Passus, der seit Monaten in den Erklärungen enthalten ist. Im Kern würde dies bedeuten, dass die lockere Geldpolitik zumindest nicht ausgeweitet wird.
Erste Weichenstellungen für Kurswechsel?
Alles in allem wären das kleine Änderungen, die den Exegeten an den Finanzmärkten viel Interpretationsspielraum lassen. Im Kern wären es aber auch die ersten vorsichtigen Weichenstellungen, die der EZB mittelfristig einen Kurswechsel ihrer Geldpolitik ermöglichen könnten. Kein Paukenschlag, aber doch der Anfang einer Wende.
Radikal wird dieser Kurswechsel ohnehin nicht ausfallen. Auch eine Zinswende ist noch nicht in Sicht. Aber der EZB-Rat könnte die Finanzmärkte auf diese Weise langsam und schonend darauf einstellen, dass die Zeit des billigen Geldes kein Dauerzustand ist und sie sich in ferner Zukunft auch auf eine Straffung einstellen müssen.
Bis es dazu kommt, wird freilich noch viel Meerwasser an die Ufer Tallinns branden - und auch so mancher Sturm über die Traumstadt an der Ostsee hinweg fegen.