Interview zur Finanzmarktkrise "Der Finanzmarkt ist außer Kontrolle"
Börsencrashs und Finanzmarktkrisen hat es immer wieder gegeben. Doch das, was wir momentan erleben, habe eine andere Qualität, sagt der Wirtschaftshistoriker Abelshauser im Interview mit tagesschau.de. Denn zum ersten Mal seien auch Staaten in die Krise an den Märkten verwickelt.
tagesschau.de: Die Aktienmärkte haben innerhalb nur einer Woche 2,5 Billionen Dollar an Wert verloren - das klingt viel. Ist das ungewöhnlich in der Geschichte?
Werner Abelshauser: Nein, gerade in der jüngsten Vergangenheit ist der Finanzmarkt immer öfter außer Kontrolle geraten. Mitunter kam es sogar vor, dass der Dow Jones an einem einzigen Tag 22 Prozent des Börsenwerts verloren hat.
Nach dem großen Crash von 1929 hielt eine solche Schwäche sogar zwei Jahre an, um 1931 in den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu münden. Zuvor hatte die Börse seit 1921 geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben. Und dann brachen die Kurse ein.
Prof. Werner Abelshauser, Jahrgang 1944, leitet an der Universität Bielefeld den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte und hat zahlreiche Bücher zum Wandel der deutschen Industrie und Wirtschaft verfasst. Sein Buch "Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945" gilt als Standardwerk.
tagesschau.de: Waren vor 80 Jahren die weltweiten Finanzmärkte überhaupt ähnlich miteinander verflochten wie heute?
Abelshauser: Die Verflechtung der Finanzmärkte beginnt schon im 19. Jahrhundert. Von 1860 bis zum ersten Weltkrieg haben wir eine erste Phase der Globalisierung, in der es über den Goldstandard in Europa und den USA feste Wechselkurse, also eine Art Weltgeld gibt, und keine Grenzen für Kapital, Arbeit und Waren. Das hat funktioniert, weil es klare Regeln gab.
tagesschau.de: Warum ist der Finanzmarkt heute außer Kontrolle geraten?
Abelshauser: Die expandierende Finanzwirtschaft hat Wege und Methoden gefunden, einen kurzfristigen Gewinn zu erzielen und dabei keinerlei Kontrolle zu unterliegen. Dies ist hoch riskant und führt immer wieder dazu, dass der Kapitalmarkt entgleist.
tagesschau.de: Welche Krisen gab es in den letzten Jahren?
Abelshauser: Es gab dutzendweise Finanzkrisen, von der Mexiko-Krise über diverse Zusammenbrüche der asiatischen Märkte bis hin zum Platzen der New Economy und der noch anhaltenden Finanzmarktkrise von 2008.
tagesschau.de: Ist die derzeitige Krise mit diesen vergleichbar, oder hat sie eine besondere Qualität?
Abelshauser: Aus meiner Sicht hat sie eine besondere Qualität, weil nämlich zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte auch der Staat seine Handlungsfähigkeit zu verlieren droht. In der Krise von 2008 und 2009 hat die Politik souverän und erfolgreich reagiert. Ihr Vertrauenskapital war unverbraucht, so dass die Kanzlerin damals alle Sparkonten garantieren konnte – und die Leute haben es geglaubt.
Diese Handlungsfähigkeit steht heute im Zweifel, weil die Staaten hoch verschuldet sind. Die amerikanische Krise ist zwar in der vergangenen Woche angeblich gelöst worden, allerdings glaubt niemand so richtig daran, dass diese Lösung von Dauer ist. Und die europäische Krise, eine Krise der Stabilität des Euroraums, ist vor zwei Wochen mit großem Pomp beerdigt worden. Man muss aber kein Experte sein, um zu wissen, dass der Dauerstress anhält.
tagesschau.de: War das abzusehen, dass die Finanzmarktlage sich so entwickelt?
Abelshauser: In gewisser Weise schon. Weder Washington noch Brüssel sind bereit, das Übel an der Wurzel zu packen. Anleger wollen aber Sicherheit. Ansonsten investieren sie nicht.
tagesschau.de: Kann es denn für die Finanzmarktkrise überhaupt eine Lösung geben, und wie sähe die aus?
Abelshauser: Es handelt sich ja sowohl in den USA als auch im Euroraum hauptsächlich um eine Schuldenkrise. In der Theorie gibt es eigentlich nur vier Möglichkeiten, die Schuldenfrage zu lösen. Die eine wäre, die Schulden zu tilgen. Eine komplette Schuldentilgung hat es zuletzt im Jahr 1835 in den USA gegeben. Seitdem ist es völlig absurd, davon auszugehen – und es wäre nicht hilfreich, weil wir damit eine ständige Deflationsquelle hätten.
Die zweite Möglichkeit ist, auf ein hohes Wirtschaftswachstum zu setzen. Allerdings wissen wir, dass die führenden Wirtschaftsnationen, die am meisten involviert sind, durchschnittlich nicht mehr als zwei Prozent wachsen. Mehr ist einfach nicht drin.
Die dritte Möglichkeit ist Inflation. Wir haben eine geplante Inflation von zwei Prozent, die jetzt gerade überschritten sind. Zusammen mit dem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent hätten wir in 17,5 Jahren die Schuldenlast halbiert - wenn sich sonst nichts ändert. Das ist eine ganz einfache Rechnung. Die Schmerzgrenze der Inflation liegt in Deutschland bei sechs Prozent, damit ließe sich die Schuldenlast in der gleichen Zeit sogar auf ein Viertel reduzieren.
Die vierte Möglichkeit läge darin, Schulden zu konsolidieren. Die Staatsschulden werden zu relativ hohen Zinssätzen aufgenommen, die in Deutschland zwischen drei und vier Prozent liegen. Fänden sich genug Gläubiger, die bereit wären, Staatsanleihen zu einem Zinssatz von nur einem oder zwei Prozent zu kaufen, dann könnte man Schulden konsolidieren: Die Belastung würde sinken. Das passiert übrigens bereits: Der Anteil der Staatseinnahmen, der zur Finanzierung der Zinsbelastung aufgewendet werden muss, hat sich während der laufenden Krise von 18 auf 13 Prozent reduziert. Staatspapiere sind in Deutschland stark nachgefragt, beispielsweise von Leuten, denen Gold zu riskant ist.
tagesschau.de: Deutschland hat im 20. Jahrhundert zwei Kriege verloren, dazu kam die Wiedervereinigung. Trotzdem gehören wir nicht zu Europas Sorgenkindern. Wie hat das Land das bewältigt?
Abelshauser: Deutschland ist außergewöhnlich wettbewerbsfähig am Weltmarkt für nachindustrielle Qualitätsproduktion. Diese Fähigkeit haben nicht viele Wettbewerber. Außerdem sind wir die inneren Staatsschulden in der Währungsreform von 1948 losgeworden. 93,5 Prozent der Reichsmarkbestände wurden enteignet und vernichtet. Nur der Rest, also 6,5 Prozent wurde in D-Mark umgetauscht. Damit konnte man einerseits eine Inflation abwenden, zum anderen hat der Staat sich so entschuldet. Erst mit der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit in den Siebzigerjahren und natürlich besonders mit der Wiedervereinigung hat man wieder Schulden angehäuft.
tagesschau.de: Wäre ein solcher Geldschnitt auch eine Möglichkeit für Griechenland oder die USA?
Abelshauser: Nein. Das Problem liegt dort anders. Für Griechenland wäre die einfachste Lösung, die Währung abzuwerten, beispielsweise um ein Drittel. Die Aufenthaltskosten in Hotels würden sofort günstiger werden als in der Türkei, und auch der Preis von Waren, vom Ouzo bis zum Schiffsbau, würde um ein Drittel sinken. Das wären Wettbewerbsvorteile für das Land.
Aber Griechenland ist ja längst nicht mehr das einzige Problem: Ein Land wie Italien kann man nicht mehr über europäische Umlagen stabilisieren. Das geht nicht, das wiegt wirtschaftlich zu schwer. Deshalb bin ich langfristig sehr skeptisch, ob sich der Euro in dieser Form erhalten lässt.
Das Gespräch führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de