Nahostkrieg Bodeneinsatz in Gaza - was heißt das für die Geiseln?
Israel hat nach eigenen Angaben "die zweite Phase" des Krieges gegen die Hamas-Terroristen gestartet - und operiert mit Panzern im Gazastreifen. Was heißt das für die Geiseln - und die Verhandlungen für ihre Freilassung?
Die Ausgangslage
Die militant-islamistische Terrororganisation Hamas hat bei ihrem Überfall auf Israel am 7. Oktober in den Orten nahe des Gazastreifens ein Massaker angerichtet. Israel hat seither 1.400 Tote zu beklagen, darunter sind auch 310 Soldaten. Zudem verschleppten die Terroristen viele Menschen. Wie viele genau, ist bis heute nicht ganz klar, weil viele Menschen weiterhin als vermisst gelten. Nach israelischen Angaben wurden bis Samstag die Familien von 230 Geiseln informiert. Es wird erwartet, dass die Zahl noch steigen könnte. Die Menschen werden irgendwo im Gazastreifen gefangen gehalten, auch im Tunnelsystem unter der Erde und vermutlich in kleinen Gruppen. Nach der Ausweitung der israelischen Bodeneinsätze in dem Gebiet ist das Schicksal der Geiseln ungewisser denn je.
Wer sind die Geiseln?
Die Hamas verschleppte bei ihrem Überfall offenbar wahllos Menschen - Alte, Kinder, Familien, Männer, Frauen. Die jüngste Geisel ist nach israelischen Informationen neun Monate, die wohl älteste 85 Jahre alt. Mehr als die Hälfte der Geiseln haben ausländische Pässe aus 25 verschiedenen Ländern - meist wohl neben dem israelischen Pass.
Nach israelischen Angaben haben 138 der Geiseln ausländische Pässe, darunter 15 Argentinier, zwölf Deutsche, zwölf Amerikaner, sechs Franzosen und sechs Russen. Außerdem befinden sich demnach 54 thailändische Staatsangehörige unter den Verschleppten. Es werde angenommen, dass viele von ihnen eine doppelte Staatsbürgerschaft besäßen. Doch bei einigen, wie den thailändischen und fünf nepalesischen Geiseln, sei dies mit Sicherheit nicht der Fall. Außerdem gebe es eine chinesische Geisel, eine aus Sri Lanka, zwei aus Tansania und zwei von den Philippinen.
Warum sind so viele Thailänder unter den Geiseln?
Nach Angaben des thailändischen Außenministeriums arbeiten etwa 30.000 Thailänderinnen und Thailänder in Israel, etwa 5.000 davon im Süden des Landes nahe der Grenze zum Gazastreifen. Landarbeiter aus Thailand sind in wirtschaftlich höher entwickelten Ländern tätig, weil sie dort deutlich höhere Löhne als in ihrer Heimat erhalten können. In Israel arbeiten sie zumeist auf den Feldern in der Gegend nahe dem Gazastreifen, wo etwa zwei Drittel der für den Bedarf benötigten landwirtschaftlichen Produkte wachsen. Thailänderinnen und Thailänder stellen die größte Gruppe unter den Arbeitsmigranten.
Was weiß man über die deutschen Geiseln?
Offiziell recht wenig. Schon die genaue Zahl ist unklar. Die israelische Regierung gibt die Zahl deutscher Geiseln mit zwölf an, die Angehörigen sprechen von 14 Menschen. Das Auswärtige Amt spricht von insgesamt acht Vermisstenfällen deutscher Staatsbürger, wobei ein Fall auch mehrere Familienmitglieder einschließen könne. Die genaue Zahl nennt die Regierung nicht. Auch habe man keinen direkten Kontakt zu den Verschleppten.
Vor der deutschen Botschaft in Tel Aviv machen die Angehörigen seit Tagen auf das Schicksal ihrer Liebsten aufmerksam. Unter ihnen ist auch Ricarda Louk, Mutter der 22-jährigen Hamas-Geisel Shani Louk. Die Geiseln seien "mitten in einer Kriegszone", sagte sie der Nachrichtenagentur dpa. Sie habe keine Ahnung, wo ihre Tochter im Gazastreifen festgehalten werde. Zuletzt habe sie vor zwei Wochen davon gehört, dass die von einem Musikfestival verschleppte Shani Louk möglicherweise in einem Krankenhaus im Gazastreifen behandelt worden sei. "Aber wir konnten das nicht hundertprozentig bestätigen", sagte die aus Ravensburg stammende Frau. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte den Angehörigen bei einem Treffen in Tel Aviv zugesichert, sich um die Freilassung der Geiseln zu bemühen.
Was weiß man über den Zustand der Geiseln?
Die Hamas-Terroristen haben bislang vier Menschen freigelassen. Eine Mutter und ihre Tochter, die sowohl die israelische als auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft haben und zwei Frauen aus Israel - eine ist 79, die andere 85 Jahre alt. Für die Hamas sind die Freilassungen offenbar Teil ihrer psychologischen Kriegsführung. Sie will beweisen, dass sie zu Verhandlungen bereit sei.
Wo und unter welchen Bedingungen die Verschleppten festgehalten werden, dazu gibt es naturgemäß nur wenig verlässliche Informationen. Yocheved Lifschitz ist eine der bisher freigelassenen Geiseln und die erste, die sich danach öffentlich zu ihrer Gefangenschaft äußerte. Sie sei "durch die Hölle gegangen", so die 85-Jährige und erzählte vom Tunnelsystem der Hamas und davon, insgesamt gut behandelt worden zu sein.
Was bedeuten die israelischen Bodeneinsätze im Gazastreifen für die Geiseln?
Das ist schwer abzuschätzen. Die Angehörigen der Geiseln befürchten, dass der Militäreinsatz am Boden das Leben der Geiseln gefährdet. Die Verschleppten könnten durch die Kampfhandlungen zwischen israelischen Soldaten und Terroristen sterben oder etwa indem sie die Hamas als menschliche Schutzschilde missbraucht.
Meirav Leshem Gonen, Mutter einer weiblichen Geisel, sagte dem israelischen Armeesender am Samstag: "Ich verstehe nichts von Strategie, ich verstehe etwas von Mutterschaft - und ich habe das Gefühl, dass dies ein Krieg ist, den wir schon verloren haben. Wie kann man sicherstellen, dass meine Tochter und die anderen Geiseln wirklich lebend nach Hause kommen?"
Zudem fürchten die Angehörigen, dass Verhandlungen über die Freilassung zumindest schwieriger wenn nicht gar unmöglich werden. Sie fordern von der israelischen Regierung, auf die Freilassung aller Geiseln zu dringen, ehe sie ihr militärisches Vorgehen gegen die militant-islamistische Hamas vorantreibe.
Wer verhandelt, wer vermittelt?
Eine wichtige Vermittlerrolle bei den Verhandlungen spielen Katar und Ägypten. Zuletzt soll es nach Einschätzung des Ministerpräsidenten von Katar einige Fortschritte gegeben haben. Er hoffe, dass es sehr bald zu einem Durchbruch kommen werde, sagte Scheich Mohammed Bin Abdulrahman al-Thani am Mittwoch. Inzwischen klingt man dort weniger optimistisch: Majed Al-Ansari, Sprecher des katarischen Außenministeriums, sagte dem US-Nachrichtensender CNN, die Eskalation vor Ort mache die Situation nun "erheblich schwieriger". Von einem Abbruch der Gespräche sprach er nicht.
Israel geht nach Medienberichten davon aus, dass die Hamas Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln absichtlich in die Länge gezogen hat, um den Beginn einer israelischen Bodenoffensive zu verzögern. Militärsprecher Daniel Hagari sprach von "psychologischem Terror" der Hamas.
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagt nach einem Gespräch mit den Angehörigen, die Befreiung der Geiseln sei ein "integraler" Bestandteil der militärischen Ziele. "Druck ist der Schlüssel. Je größer der Druck, desto größer die Chancen."
Wie stehen die Chancen für einen Gefangenenaustausch?
Vertreter der Angehörigen fordern einen Gefangenenaustausch. Israel solle die Freilassung aller palästinensischen Häftlinge im Austausch für alle Geiseln erwägen. Der Chef der Hamas-Terrormiliz im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, behauptete, man sei bereit, ein Abkommen über einen Gefangenenaustausch sofort abzuschließen.
"Die Freilassung aller Gefangenen wäre ein großer Erfolg für die Hamas", sagte Chalil Schikaki, Direktor des Palästinensischen Zentrums für Politik und Umfrageforschung. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem handelt es sich um etwa 4.500 Menschen.
Laut Netanyahu diskutiert sein Kriegskabinett über einen Austausch. Details wollte er nicht nennen. Die Bedingungen eines solchen Abkommens offenzulegen, werde nicht dabei helfen, es zu verwirklichen.
Jedoch werden Erinnerungen wach an den Fall des jungen Wehrpflichtigen Gilad Schalit, der im Jahr 2006 von der Hamas entführt wurde. Massiver öffentlicher Druck führte nicht nur zur Bombardierung des Gazastreifens, sondern schließlich auch dazu, dass Israel im Gegenzug für Schalits Freilassung mehr als 1.000 palästinensische Gefangene entließ, von denen viele wegen tödlicher Angriffe auf Israelis verurteilt worden waren. Nun diskutiert Israel erneut über die moralische Frage, ob die Geiseln um jeden Preis befreit werden sollten.