Wegen Grenzschließungen Europa droht Medikamentenmangel
Interne Daten des Pharmariesen Grifols zeigen: Das Blutplasma-Spendenaufkommen ist um durchschnittlich 43 Prozent eingebrochen. Ein Grund: Grenzschließungen zwischen USA und Mexiko.
Aufgrund der Corona-Pandemie könnte es nach NDR-Informationen schon in diesem Jahr zu einem Engpass bei Blutplasma-Medikamenten kommen. Aus Kreisen der EU-Kommission heißt es, dass Pharmafirmen von einem erheblichen Rückgang von Plasmaspenden in Europa und den USA berichten. Interne Firmendaten, die dem NDR vorliegen, bestätigen dieses Bild.
Nach Einschätzung der EU-Kommission könnte dies in den nächsten sechs bis zwölf Monaten dazu führen, dass aus Blutplasma hergestellte Medikamente knapp werden. Das verzögerte Auftreten einer möglichen Verknappung erklärt sich aus dem langen Verarbeitungsprozess.
Corona-Krise lässt Spenden sinken
Für die geringere Verfügbarkeit von Blutplasma in Europa gibt es mehrere Ursachen. Sowohl in europäischen Ländern als auch in den Vereinigten Staaten sind es die im Zusammenhang mit der Pandemie verhängten Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen, die das Spendenaufkommen sinken lassen.
Hinzu kommt, dass etwa 40 Prozent des in Europa verarbeiteten Blutplasmas aus den Vereinigten Staaten stammt. NDR-Reporter haben interne Zahlen von rund 50 US-Spendenzentren der Pharmafirma Grifols, die zu den Marktführern bei der Verarbeitung von Blutplasma gehört, ausgewertet und mit den Daten aus Februar und März 2019 verglichen.
Drastischer Rückgang
Das Ergebnis: Die Spenden sanken auf 57 Prozent des Vorjahreswertes. Vor allem die beiden für die plasmaverarbeitende Industrie lukrativen grenznahen Zentren im texanischen El Paso, die im Februar und März 2019 noch Rekordwerte von über 600 Spenden am Tag verzeichneten, kommen jetzt nur noch auf zwölf und 13 Prozent des Spendenaufkommens.
Seit dem 21. März gelten aber die von US-Präsident Donald Trump verfügten Einreisebeschränkungen. Seither können mexikanische Plasmaspender an einigen der Grenzübergänge nicht mehr in die USA einreisen. Bisher waren sie mit Bonuszahlungen über die Grenze gelockt worden, um bis zu zwei Mal pro Woche ihr Plasma zu spenden - fast doppelt so häufig wie in Deutschland. Grifols wollte sich auf Anfrage nicht zu den Zahlen äußern.
Plasma: Für viele Medikamente wichtig
Aus Plasma hergestellte Medikamente werden in der Behandlung von Patienten mit chronischer Immunschwäche und Gerinnungsstörungen eingesetzt, kommen aber auch etwa in der Notfallmedizin zum Einsatz. Eine große Bedeutung hat das Blutplasma von genesenen Covid-19-Patienten bei der Entwicklung von Therapien gegen die Corona-Krankheit, da die in deren Plasma enthaltenen Antikörper zu einem hochwirksamen Medikament verarbeitet werden könnten. Auf diesem Gebiet forschen weltweit zahlreiche Firmen, Kliniken und Hochschulen.
Im April haben sich sechs der größten plasmaverarbeitenden Unternehmen, darunter die in Deutschland ansässigen Firmen CSL Behring und Biotest, zu einer weltweiten Allianz zusammengeschlossen, um gemeinsam ein Präparat gegen Covid-19 zu entwickeln. Das aus dem Blutplasma genesener Covid-19-Patienten gewonnene Medikament könnte nach Branchenangaben bis Ende des Jahres zur Verfügung stehen und soll dann ohne Firmennamen auf den Markt kommen.
Hilfe für Covid-19-Patienten
"Ein infizierter Patient würde damit die Antikörper von tausend bis zweitausend gesundeten Spendern als Mischung erhalten und wäre dann mit diesen intravenös zugeführten Antikörpern wahrscheinlich sehr schnell in der Lage, diese Krankheit abzuwehren", sagt Dirk Neumüller von der Biotest AG im hessischen Langen. Eine entsprechende Studie solle im Juni eingereicht werden, so dass das Medikament bereits Ende des Jahres zur Verfügung stehen könnte.
NDR-Recherchen zufolge hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die plasmaverarbeitenden Unternehmen in der vergangenen Woche um Daten gebeten, um die Auswirkungen des Spendenrückgangs auf die Arzneimittelversorgung einschätzen zu können. Welche Maßnahmen man auf EU-Ebene ergreifen werde, lasse sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen, hieß es aus der EU-Kommission.
Branche rechnet mit Lieferengplässen
Zuvor hatte nach NDR-Informationen die PPTA, ein Zusammenschluss plasmaverarbeitender Pharmafirmen, in einem Brief an die EMA ihre "tiefe Beunruhigung" über die weitere Verfügbarkeit von Plasmamedikamenten angesichts der sinkenden Spendenzahlen ausgesprochen. Auch CSL Behring in Marburg kalkuliert nach Aussagen eines Insiders bereits mit möglichen Lieferengpässen im zweiten Halbjahr 2020.
Auch gemeinnützige Blutspendedienste meldeten in Deutschland zu Beginn der Corona-Krise einen Rückgang der Spenden von bis zu 30 Prozent, teilte der DRK-Blutspendedienst auf Anfrage mit. Die Situation habe sich inzwischen stabilisiert, auch wenn weiterhin eine Engpassgefahr bestehe und nach wie vor Spender gebaucht werden. Dieser Sektor spielt für die Verarbeitung von Blutplasma zu Medikamenten jedoch nur eine untergeordnete Rolle.
Nach den Zahlen des zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) wurden zuletzt über 80 Prozent des so verwendeten Plasmas von kommerziellen Pharmafirmen gesammelt. Auf Nachfrage erklärte das PEI, es lägen keine aktuellen Daten zum Spendenaufkommen während der Corona-Pandemie vor.