Trotz EU-Sanktionen Deutsche Technik für Russland
Noch immer gelangen sensible Güter aus Deutschland nach Russland und werden dort offenbar auch in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Recherchen von NDR, WDR und SZ zeigen ein internationales Netzwerk, mit dem Sanktionen wohl gezielt umgangen werden.
Die Firma Enütek Makina wirkt unscheinbar. Der Unternehmenssitz liegt in einem Gewerbegebiet in Istanbul. Laut Homepage ist die Firma auf den Handel mit "Maschinen, Ausrüstung und Büromöbeln" spezialisiert. Nichts deutet darauf hin, dass das Unternehmen eine wichtige Rolle in der russischen Kriegswirtschaft spielen könnte. Und doch handelt es sich bei Enütek offenbar um eine Art Pipeline, geschaffen, um Russland mit dringend benötigter Spezial-Technik zu versorgen. Technik, die trotz Sanktionen auch von deutschen Herstellern stammt.
Das zeigt eine internationale Recherche, an der neben NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung und der französischen Tageszeitung Le Monde die ukrainische Nichtregierungsorganisation StateWatch/Trap Agressor beteiligt war. Demnach exportierte Enütek allein im Jahr 2023 Technik aus aller Welt im Wert von mehr als sieben Millionen Euro nach Russland - darunter viele Komponenten und Teile, die gerade auch in der russischen Rüstungsindustrie heiß begehrt sind.
Die ukrainische Nichtregierungsorganisation StateWatch wurde 2018 gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, Ausgabenverschwendung im ukrainischen Militär- und Gesundheitswesen aufzudecken, Korruption zu bekämpfen und die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine zu stärken. Finanziert wird sie von verschiedenen Stiftungen, die wiederum Gelder von europäischen Ländern, der britischen Botschaft und dem Milliardär George Soros erhalten. Das im Jahr 2022 gestartete StateWatch-Projekt "Trap Aggressor" recherchiert speziell zu Sanktionsumgehungen.
Komponenten für Luft- und Raumfahrt
Auch wenn die Kreml-Propaganda etwas anderes behauptet: Die russische Wirtschaft ist nach wie vor dringend auf Technik aus dem Westen angewiesen, sowohl für die Herstellung ziviler Produkte, wie etwa ziviler Flugzeuge, als auch zur Herstellung von Militärtechnik und Waffen. Das zeigt der Fall Enütek exemplarisch. Das türkische Unternehmen hat in Russland einen Hauptabnehmer: den Promtech-Konzern.
Nach eigenen Angaben forschen und produzieren die mehr als 6.000 Promtech-Beschäftigten an Komponenten, die in der Luft- und Raumfahrt, in der Raketentechnik und in der Schifffahrt eingesetzt werden. In einem Interview, das 2021 geführt wurde, erklärte der Firmen-Chef, Valery Shadrin, dass zu Promtechs Kunden unter anderem die russische Raumfahrtbehörde und der staatliche Flugzeug- sowie der staatliche Hubschrauber-Bauer gehörten.
Auf ihrer Homepage wirbt die Promtech-Tochter OKB damit, Teile für Helikopter und Flugzeuge bereitzustellen, die auch vom russischen Militär genutzt würden. Mehrere Promtech-Töchter wurden dafür zertifiziert, militärische oder sicherheitsrelevante Aufträge ausführen zu können. Ziel von Promtech sei es, "unabhängig von ausländischen Sanktionen" und unabhängig von westlichen Importen wirtschaften zu können, so Shadrin damals.
Promtech-Tochter bis 2022 in Frankreich
Doch so ganz ohne westliche Technik geht es offenbar nicht. Die Recherchen belegen, dass der russische Riesenkonzern bereits vor dem Krieg gegen die Ukraine in Europa Spezial-Werkzeuge und Elektronik eingekauft hat, auch bei deutschen Zulieferern. Teilweise liefen die Geschäfte direkt zwischen Promtech und europäischen Firmen. In anderen Fällen wurden die Lieferungen offenbar über die 2015 gegründete Firma Industrial Technologies Group (ITGF) mit Sitz in Frankreich abgewickelt.
Wer sich die Mühe macht, die Besitzerverhältnisse der ITGF nachzuschlagen, der erlebt eine Überraschung: Bis 2022 gehörte die Mehrheit der ITGF- Anteile dem russischen Promtech-Konzern. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges wurde der direkte Einkauf so genannter Dual-Use-Güter, also solcher Waren, die sowohl zivil als auch militärisch eingesetzt werden können, offenbar zu heiß, zumal mehrere Promtech-Töchter international mit Sanktionen belegt wurden. Doch der Strom an Steckverbindungen, Halbleitern, Transistoren und anderem technischen Gerät aus Europa riss seither nicht ab.
Messtechnik, Spezialschrauben, Thermometer
Die Recherchen zeigen, dass die ehemalige Promtech-Tochter in Frankreich Ende 2022 eine neue Firma gründete, die Enütek, diesmal mit Sitz in der Türkei. Es sei darum gegangen, in den türkischen Telekommunikationsmarkt vorzudringen, heißt es. Allerdings habe die französische ITGF mit der türkischen Enütek keine wirtschaftliche Verbindung unterhalten.
Eine Auswertung türkischer Export- und russischer Import-Daten zeigt, dass die bislang nicht sanktionierte Enütek weltweit auf Einkaufstour für Spezialtechnik ging, die anschließend nach Russland exportiert wurde, und zwar an Promtech. Die Türkei unterliegt nicht dem europäischen Sanktionsregime.
Im Jahr 2023 konnten Promtech-Töchter ausweislich der Unterlagen elektronische Schalter aus den USA, Messtechnik aus den Niederlanden, Spezialschrauben aus Frankreich und ein hitzebeständiges Temperaturmessgerät aus Italien importieren. Auch Technik "Made in Germany" wurde von Enütek nach Russland geliefert. Mal geht es bei den Bestelllungen um wenige hundert Euro, mal um sechsstellige Summen.
Produkte deutscher Unternehmen
Demnach erhielt die Promtech-Tochter OKB Schlösser für Flugsitze, die den Unterlagen zufolge von einem Zulieferer für die Luftfahrt-Industrie aus Süddeutschland stammen. OKB steht seit Dezember 2022 auf der EU-Sanktionsliste. Mehrere Biegemaschinen für die "Herstellung von Rohrleitungssystemen für zivile Flugzeuge" gingen den Unterlagen zufolge an andere Promtech-Töchter. Die Geräte sollen von der Jutec Biegesysteme GmbH stammen und werden offenbar seit 2022 von den Russland-Sanktionen als "Dual-Use-Güter" erfasst. Jutec wollte sich aus "datenschutzrechtlichen Gründen" nicht weiter dazu äußern.
In den Daten tauchen auch elektrische Steckverbindungen auf, die von Molex in Deutschland produziert worden sein sollen. Eine Sprecherin der US-Konzernmutter erklärte, man halte sich an internationales Recht. Molex produziere "Standardprodukte, die von Zwischenhändlern weltweit angeboten" würden.
Auch "Rundstangen" der Firma Lebronze Alloys, mit denen offenbar spezielle elektrische Kontakte hergestellt werden können, gelangten so nach Russland. Ein Sprecher von Lebronze Alloys Germany räumte ein, im Dezember 2019 eine Geschäftsbeziehung zu Promtech und im Juni 2023 eine zu Enütek gehabt zu haben. Allerdings habe diese 2019 nur 0,04 Prozent des Umsatzes und 2023 lediglich 0,14 Prozent betragen.
Auf der Liste tauchen außerdem Halbleiter von Infineon auf. Infineon erklärte, dass man nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 umfassende Maßnahmen ergriffen habe, um alle direkten und indirekten Lieferungen zu stoppen.
Weiterverkauf über Vertriebsfirmen
Alle deutschen Firmen erklärten auf Nachfrage, dass sie sich eng an die bestehenden Sanktionen halten und keine Geschäfte mit sanktionierten Unternehmen oder mit Russland machen. Doch ob das ausreicht, um Russland den Zugang zu kriegswichtiger Technik zu unterbinden, ist fraglich.
So berichten Insider, dass der Luftfahrtzulieferer aus Süddeutschland in der Vergangenheit direkt mit Promtech Handel betrieben habe. Der sei mit Beginn des Kriegs zwar eingestellt worden. Allerdings sei dann die neu gegründete Firma Enütek an das deutsche Unternehmen herangetreten und habe dort eben jene Waren bestellt, die zuvor nach Russland gegangen seien.
Andere deutsche Firmen gaben an, dass sie sich nicht erklären könnten, wie ihre Produkte bei Promtech landen konnten. Oftmals wären Vertriebspartner eingeschaltet. Folgt man der Erklärung der deutschen Unternehmen, könnte es durchaus sein, dass ihre Waren in Russland gelandet sind, ohne dass sie davon Kenntnis hatten.
Sanktionen verschärft
Der Sanktionsexperte Benjamin Hilgenstock von der Kyiv School of Economics hofft darauf, dass der Fall Enütek deutschen Produzenten zu denken gibt. Zumal ein neues Sanktionspaket der EU die Export-Regeln noch einmal verschärft: "Die Anforderungen an die europäischen Unternehmen haben sich geändert. Sie müssen bei ihren Geschäften nicht mehr nur bedenken, was sie von ihren Kunden wussten, sondern was sie hätten wissen können", so Hilgenstock. Entscheidend für den Erfolg der Sanktionen sei aber letztlich, wie stark deren Einhaltung von den zuständigen Behörden überwacht würden.
Auf Nachfragen von NDR, WDR, SZ und Le Monde reagierte weder die russische Promtech-Gruppe, noch das türkische Unternehmen Enütek. Die französische Firma ITGF bestätigte, dass Promtech 2015 die Mehrheit ihrer Aktien übernommen habe. Man sei jedoch nicht Teil der Promtech-Gruppe gewesen, zu der die Geschäftsbeziehungen vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine beendet worden seien. Im Oktober 2023 habe ITGF beschlossen, die Anteile an der türkischen Enütek zu verkaufen.