Krieg gegen die Ukraine Elektronik aus Deutschland für russische Waffen?
Die Staatsanwaltschaft hat Geschäftsräume einer Firma bei München durchsucht. Nach Monitor-Recherchen zählt sie zu einem russischen Unternehmensnetzwerk, das Bauteile nach Moskau lieferte, die auch für die Waffen geeignet sind.
Die ukrainische Gegenoffensive ist ins Stocken geraten - fast zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs geht die Ukraine auf einen schwierigen Winter zu: Moskau, das fürchten Experten, könnte in den kommenden Wochen noch einmal seine Luftangriffe ausweiten, eine Winteroffensive starten und auch neue Hoheit über Schlachtfelder gewinnen.
Angetrieben wird Russland dabei offenbar auch von einer scheinbar ungebremsten Stärke seiner Rüstungsindustrie - trotz zahlreicher Sanktionen.
Eine Recherchekooperation des ARD-Magazins Monitor mit der niederländischen Sendung "Nieuwsuur" und dem britischen Think Tank RUSI hat monatelang russische Zolldaten einsehen und auswerten können. Darin zu sehen sind Tausende Lieferungen von mikroelektronischen Bauteilen wie Transistoren, integrierten Schaltkreisen oder Mikrochips.
Abhängig von westlicher Technologie
Die Recherchen zeigen: Der russische Militärsektor, der laut Experten noch immer von westlicher Technologie abhängig ist, versorgt sich offenbar auch über eine Firma mit kriegsrelevanter Technologie, deren Verbindungen von Moskau über Hongkong bis in die Slowakei und nach Deutschland reichen: Compel.
Compels Firmensitz in Moskau wirkt unauffällig. Die Fassade des mehrstöckigen Industriegebäudes ist ausgegraut, auf einer mehrspurigen Straße davor kommen täglich Hunderte Autos am Firmensitz vorbei. Doch die unscheinbare Fassade trügt: Das Unternehmen ist einer der größten Händler von elektronischen Bauteilen Russlands.
Offiziell heißt es, man beliefere nur den zivilen Sektor, die Rüstungsindustrie gehöre nicht zu den Kunden. Doch Monitor, "Nieuwsuur" und RUSI konnten Dokumente einsehen, wonach Compel auch Unternehmen beliefert, die wiederum eng mit der russischen Rüstungsindustrie zusammenarbeiten. Etliche davon wurden von den USA in diesem Jahr sanktioniert - und auch Compel selbst wurde im Juli 2023 von amerikanischen Behörden auf eine Sanktionsliste gesetzt. Von der EU bislang jedoch noch nicht.
Bauteile aus Deutschland in modernster Waffentechnik?
Dabei zeigen die Recherchen in den russischen Importdaten, dass Compel auch enge Beziehungen nach Europa unterhält. Ein wichtiger Zulieferer der Firma stammt aus Deutschland: Die WWSemicon GmbH, mit Sitz im Landkreis München. In den Dokumenten finden sich Lieferungen Tausender elektronische Bauteile. Darunter auch Spannungswandler - Bauteile, wie sie Forensiker in der Ukraine in Überresten russischer Waffen fanden.
Der Wandler taucht in der Aufklärungsdrohne Orlan-10 auf. Aber auch in Marschflugkörpern wie der Kh-101 oder 9M727 Iskander-K. Marschflugkörper gehören zu den modernsten Waffensystemen des russischen Militärs. Im Oktober dieses Jahres traf ein Geschoss die ukrainische Stadt Kupjansk. Der Einschlag der Rakete tötete nach Angaben der örtlichen Behörden mehr als 50 Menschen.
Der Spannungswandler, der in Russlands Waffen verbaut ist, ist nicht das einzige Bauteil, das sich in den Lieferlisten der WWSemicon GmbH an Compel findet. Auch etliche andere Bauteile fanden den Weg nach Russland - laut den Handelsdaten auch nach Kriegsbeginn, mindestens bis Juni 2023.
Auf eine umfangreiche Anfrage der Recherchekooperation teilt WWSemicon mit, man habe die Lieferungen an Compel schon vor Einführung der Sanktionen eingestellt, außerdem seien die Lieferungen zum Zeitpunkt des Exports legal gewesen.
"Kriegsrelevante" Güter nicht sanktioniert
Tatsächlich verstießen die meisten Lieferungen unzweifelhaft nicht gegen die EU-Sanktionen. Aber genau das sei oft das Problem, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Elina Ribakova von der Kyiv School of Economics.
Sie forscht zu Russlands Kriegswirtschaft. Noch immer stünden viel zu wenige "kriegsrelevante" Güter auf den Sanktionslisten der EU und der USA, sagt sie. Nach ihren Analysen müssten mehr als 300 Produktgruppen sanktioniert werden, die EU und die USA einigten sich bisher allerdings nur auf 45 Gruppen.
Doch neben legalen Exporten tauchen in den russischen Zolldaten, die der Recherchekooperation vorliegen, auch Lieferungen der WWSemicon von Produktgruppen auf, die sich auf der Sanktionsliste der EU finden. Aus den Daten geht hervor: Diese Sendungen werden offenbar über Lager in Bratislava und Litauen an Compel geliefert.
Verdächtige Lieferungen
Bärbel Sachs ist Sanktionsrechtsexpertin, sie hält die Lieferungen für verdächtig: "Auf der Basis der Daten, die wir gesehen haben, gehen wir davon aus, dass es sich um gelistete Güter handelt, deren Verkauf, Ausfuhr und Lieferung nach Russland verboten ist."
WWSemicon betont, alle Ausfuhren seien von deutschen und slowakischen Behörden genehmigt und geprüft worden. Konkrete Nachfragen zu den verdächtigen Lieferungen beantworten jedoch weder das Unternehmen noch die zuständigen Behörden.
Antworten darauf suchen aber auch der deutsche Zoll und die Staatsanwaltschaft München. Am Morgen durchsuchte sie die Geschäftsräume von WWSemicon, führt also ein Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen. Zu weiteren Details äußerte sich die Staatsanwaltschaft bisher jedoch nicht.
Der Weg über Drittstaaten
Die Lieferwege im Firmennetzwerk jedenfalls sind schwer durchschaubar, denn sie laufen zum Teil über mehrere Staaten. So unterhalten Compel und WWSemicon enge Handelsbeziehungen zu einer Firma in Hongkong namens Finder Technologies. Alle drei Firmen sind durch persönliche Verflechtungen miteinander verbunden. So ist die Tochter des Compel-Chefs eine Gesellschafterin der WWSemicon in München.
Der Firmengründer von WWSemicon ist der heutige Geschäftsführer des Unternehmens in Hongkong. Hongkong ist seit Implementierung der EU-Sanktionen ein wichtiges Einfallstor für sanktionierte Technologie aus dem Westen geworden, sagen Experten. Ebenso China und die Türkei.
Deutschland verhinderte strenge Sanktionen gegen Drittstaaten
Bei den Verhandlungen um das 11. Sanktionspaket der EU wurden zwar Sanktionsmaßnahmen gegen Drittstaaten beschlossen. Doch ausgerechnet die Bundesregierung entschärfte diese. Vertrauliche Dokumente, die Monitor vorliegen zeigen: Bei den Verhandlung ging es konkret um die "Möglichkeit, auch Staaten zu listen" - also nicht nur Unternehmen sondern auch Staaten schärfer sanktionieren zu können, die Sanktionen umgehen bzw. dabei helfen.
Aus den Dokumenten geht hervor: Deutschland blockierte das bis zum Schluss. Auf Sanktionslisten sollten nur "Unternehmen, nicht Staaten" gesetzt werden können - eine Position, mit der die Bundesregierung mehrere EU-Staaten verärgerte. Die hielten dazu fest: "Die zentrale Säule des 11. Paketes werde dadurch geschwächt."
Auf Monitor-Nachfrage heißt es vom Auswärtigen Amt, es gebe immerhin die Möglichkeit, "Drittstaaten vom Empfang bestimmter EU-Güter auszuschließen". Zunächst aber setze man auf "diplomatische Mittel". In der Praxis ist es damit kaum noch möglich, Staaten zu sanktionieren, die bei der Umgehung von Russland-Sanktionen helfen, sagen Kritiker.
Roderich Kiesewetter von der CDU hält das für einen Fehler. Er wirft der Bundesregierung vor, die Sanktionen gegen Russland mit ihrem Vorgehen aufzuweichen. "Wir müssen uns deutlich machen, dass hier nicht nur die Zukunft der Ukraine auf dem Spiel steht, sondern die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union und auch die Glaubwürdigkeit Deutschlands."
Beim laufenden EU-Gipfel in Brüssel dürften die Sanktionen gegen Drittstaaten erneut Thema werden. Die EU plant ein zwölftes Sanktionspaket. Doch Fachleute sind sich einig: Selbst die schärfsten Sanktionen sind nutzlos, wenn die EU-Mitgliedsstaaten nicht große Fortschritte bei ihrer Durchsetzung machen.