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Desinformations-Leak Tiefe Einblicke in Putins Lügenmaschine

Stand: 16.09.2024 17:00 Uhr

Interne Dokumente der kremlnahen Agentur SDA, die WDR, NDR und SZ auswerten konnten, zeigen, wie die Stimmung in Deutschland beeinflusst werden soll. Ein Ziel: Die Deutschen sollen möglichst viel Angst vor der Zukunft bekommen.

Von Petra Blum, Florian Flade, Palina Milling, Katja Riedel und Luzius Zöller, WDR, sowie Manuel Bewarder WDR/NDR und Sebastian Pittelkow, NDR

Ilya Gambashidze trägt in dem Video Flecktarn über Hemd und Krawatte. Der Chef der "Social Design Agency" (SDA) erscheint im Video in einer Art Phantasie-Uniform, auf seinem Arm ein Aufnäher: "Russische ideologische Streitkräfte" - geschrieben auf Russisch. Westliche Sicherheitsbehörden halten das Video auf Anfrage für authentisch. Und sie nehmen ernst, was darin gesagt wird.

Gambashidze gilt derzeit als einer der umtriebigsten Infokrieger Moskaus, seine Agentur SDA soll nach Erkenntnissen von Nachrichtendiensten im Auftrag der russischen Präsidialverwaltung arbeiten - direkt für Russlands Machthaber Wladimir Putin und dessen Krieg.

Screenshot aus einem SDA-Firmenvideo mit Ilya Gambashidze im Bild.

Ilya Gambashidze in einem Firmenvideo - "Narrative entwickeln" und in "Content verpacken".

Gambashidze führt diesen Krieg nicht auf dem Schlachtfeld in der Ukraine, sondern er führt den Kampf um die Köpfe. Er gilt als eine Art Nachfolger des 2023 getöteten, ehemals engen Vertrauten Putins, Jewgeni Prigoschin, und dessen "Trollfabriken". Diese waren für zahlreiche Desinformationskampagnen gegen den Westen verantwortlich, bis Prigoschin vor etwa einem Jahr bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben kam. Prigoschin hatte lange geleugnet, etwas mit der Flut an Lügen und "Fake News" im Netz zu tun zu haben.

In einem internen Firmenvideo der SDA wird nun ganz offen erklärt, was Gambashidzes Agentur vorhat: Es habe keinen Sinn, sich zu verstecken. Es gehe darum, "Informationen aus dem westlichen Medienbereich zu sammeln und zu analysieren, eigene Narrative zu entwickeln und diese in Content zu verpacken".

Fälschungen und Lügen

Ein Leak der SDA, das WDR, NDR, SZ und das estnische Medium Delfi mit internationalen Medienpartnern auswerten konnten, gibt tiefe Einblicke in die Desinformationsarbeit der kremlnahen Agentur und zeigt ganz deutlich, wie die Firma versucht, Meinungen und politische Prozesse weltweit zu beeinflussen, im Westen gezielt Stimmung für Russlands Narrative zu machen - und bestehende gesellschaftliche Konflikte zu verstärken. Ihr Mittel: Fälschungen und Lügen. Gambashidze hat auf Fragen von WDR, NDR, SZ und den internationalen Partnern nicht geantwortet. Auch ein Sprecher Putins ließ einen Fragenkatalog unbeantwortet. 

Die Dokumente datieren bis Mitte 2024. Darin enthalten sind etwa Listen, die rund hundert Namen und Aufgabengebiete fester und freier Mitarbeiter aufführen. Diese sollen der Liste zufolge gleichzeitig mehrere Desinformationskampagnen in unterschiedlichen Ländern bearbeiten. Immer wieder taucht dabei auch der Name einer Frau auf, die in der russischen Präsidialverwaltung arbeiten soll. Protokolle zeigen, dass sie regelmäßig an Treffen mit der SDA teilgenommen hat.

Die Erträge der Informationskrieger: Hunderte Karikaturen und Internetmemes, die gezielt Fakenews und russlandfreundliche Narrative transportieren. Anschließend werden diese von Bots und Fake-Accounts bei Social Media verbreitet.

Das Recherche-Team hat mehr als 250 solcher Posts überprüft, Karikaturen und Bilder sowie Umsetzungen der Narrative aus den SDA-Unterlagen im Netz wiedergefunden. Besonders viele finden sich in einem Telegram-Kanal namens "VoxCartoons". Nutzer sehen etwa die USA mit einer IS-Pappfigur in der Hand, die Ukraine steht hinter der Pappfigur. Suggeriert werden soll wohl damit, dass die USA und die Ukraine hinter Anschlägen islamistischer Terroristen stehen.

Auf einem anderen Bild befindet sich Europa im Würgegriff der USA, während die Ukraine die Hand aufhält. In einer wieder anderen Karikatur entgleist ein Zug mit einer schwarz-rot-gold angestrichenen Lok geschmückt mit einer europäischen Flagge, um offenbar Zukunftsangst vor einer Rezession zu schüren.

Screenshot einer Karrikatur auf dem Telegram Kanal von VoxCartoons mit einem Zug, dessen Lok in den Farben der deutschen Fahne gestrichen ist.

Umsetzungen der Narrative aus den SDA-Unterlagen finden sich im Netz - wie diese Karikatur.

US-Regierung entlarvt Doppelgänger-Kampagne

Anfang September hat die US-Regierung unter anderem die SDA offiziell beschuldigt, die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November beeinflussen zu wollen. Das US-Justizministerium beschlagnahmte Dutzende Internet-Webseiten, die einer aktuellen russischen Desinformationskampagne namens "Doppelgänger" zugeordnet werden konnten.

Gambashidzes SDA soll nach diesen Erkenntnissen für die "Doppelgänger"-Kampagne verantwortlich sein, bei der seriöse Nachrichtenseiten, etwa von Süddeutscher Zeitung und Spiegel, exakt nachgebaut wurden, um auf den Doppelgängerseiten russlandfreundliche Narrative und Lügenmärchen zu verbreiten, die aus den Händen der SDA stammen sollen.

Im Leak befinden sich nun zahlreiche Belege dafür, dass die SDA die "Doppelgänger"-Kampagne tatsächlich lanciert hat. Das ergibt sich aus Hunderten Screenshots der veröffentlichten Kommentare, von Artikeln auf gefälschten Webseiten sowie Posts in sozialen Medien, etwa bei Facebook, Twitter und Telegram. Gefälschte Seiten auch deutscher Medien findet man bis heute.

Ziele wie ein Unternehmen

Die SDA verfolgt bei ihrem Vorgehen sehr konkrete Ziele, die sie in sogenannten KPIs (Abkürzung für Key Performance Indicator) festhält. KPI nennt man in der Wirtschaft Kennzahlen, die als erste Erfolgsziele gelten. Die SDA hat sich KPIs für die Länder gegeben, die sie mit ihrem Infokrieg ins Visier nimmt. Dazu gehören Deutschland, Frankreich, Israel und die Ukraine.

Für Deutschland formuliert die SDA in einer Präsentation das Ziel: "Erhöhung des Stimmenanteils der AfD auf 20 Prozent" - gemessen werden sollte das Ziel am Abschneiden der Partei in bundesweiten Wahlumfragen. Die Partei hatte damals noch deutlich weniger Prozente, befand sich jedoch bereits im Aufwärtstrend und überwand im Juli 2023 erstmals die 20-Prozent-Marke.

Ein weiteres erklärtes Ziel der SDA: eine Zunahme des Indikators "Zukunftsangst" zu erreichen. Der Indikator sollte in Umfragen möglichst bei mehr als 50 Prozent liegen. Mehr als 55 Prozent der Deutschen sollten außerdem nicht bereit sein, ihr Vermögen zu opfern, um Russland zu besiegen. Und auch ein weiteres Ziel sollte erreicht werden: "Polarisierung der deutschen Gesellschaft - Zurückhaltung bei der Wahl der Grünen bei über 40 Prozent" - wiederum gemessen an Umfragen.

Zudem wurden von der SDA "thematische Linien" vorgegeben, die dann in Internetposts in verschiedenen sozialen Medien verbreitet werden sollten: Deutschland sei unbewaffnet. Die USA würden antirussische Maßnahmen nutzen, um Deutschland gezielt in den Bankrott zu treiben. Und Deutschland befinde sich angeblich in der tiefsten wirtschaftlichen und sozialen Krise der jüngeren Geschichte.

Stimmungslage im Blick

Die Agentur Gambashidzes beobachtet für ihre Kampagnen offenbar sehr aufmerksam die Stimmungslage in Deutschland. Laut den geleakten Screenshots verfolgt die SDA in Deutschland öffentliche Äußerungen von Politikern und anderen Meinungsführern ganz genau. Die Agentur behauptet, eine Datenbank mit mehr als 1.000 Personen zu führen. Dazu gehören Vertreter von verschiedenen Parteien.

Auch die öffentlichen Äußerungen von Spitzenpolitikern und mehreren Fernsehmoderatoren werden in Moskau gelesen, gesammelt und ausgewertet. Für Julia Smirnova von der Nichtregierungsorganisation CEMAS ist das "Monitoring" der erste Schritt. Es gehe darum, Medien, soziale Medien und Umfrageergebnisse in Zielländern zu analysieren. "Den zweiten Schritt nennen sie Analyse. Dabei geht es darum, Narrative und Themen zu identifizieren, die bei der Manipulationskampagne verwendet werden können."

Es gibt zudem Hinweise, dass die SDA auch einzelne Demonstrationen in Deutschland sehr genau in den Blick nimmt. Auf internen Listen sind mehr als 35 Protestveranstaltungen in Deutschland aus September und Oktober 2022 notiert - von Berlin über München, Stuttgart und Leipzig bis hin zu Rostock und Neustrelitz. Es finden sich genaue Angaben über Veranstalter und Slogans der Protestaktionen, die sich vor allem gegen die Ampel-Regierung, Russland-Sanktionen, Energiepreise und Ukraine-Hilfen richten oder Armutsängste artikulieren.

Für Julia Smirnova zeigt das, dass Russland sehr gründlich beobachtet, wo auch regionale Proteste stattfinden. "Die SDA beobachtet sehr genau, was die wunden Punkte in Deutschland sind und wie man womöglich Material von diesen Protesten in Propagandakampagnen nutzen könnte."

In einem weiteren Dokument entwirft die SDA 24 Motivvorlagen für Graffiti, die dem Titel zufolge offen für jeden sichtbar auf Gebäude in Deutschland gesprüht werden sollten. Die Motive richten sich gegen die Grünen, gegen die USA und gegen zu hohe Energiepreise. Ob und wo diese umgesetzt wurden und wenn ja durch wen, ist in dem Leak nicht erkennbar.

Unterstützung rechter Parteien

Neben der "Doppelgänger"-Kampagne rühmt sich die SDA einer weiteren Aktion, die sie offenbar im Vorfeld der EU-Wahl im Juni 2024 umgesetzt haben will - laut Unterlagen mit dem Ziel, rechtsgerichtete Parteien zu unterstützen. Die Aktivitäten waren laut SDA-internem Bericht darauf ausgerichtet, bestehende EU-Politik, deren wichtigste Akteure und insbesondere das Ansehen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu beschädigen. Rechte Parteien sollten dabei als "Friedensparteien", Beschützer der nationalen Interessen und Parteien "des gesunden Menschenverstandes" positioniert werden.

Im Sprechertext des internen SDA-Videos mit Ilya Gambashidze wird die Stoßrichtung der Agentur klar zusammengefasst: "Unsere Inhalte passen ins Weltbild westlicher Bürger. Indem wir unsere Informationsangriffe sorgfältig vorbereitet haben und die Ziele und Aufgaben des Projekts verstehen, glauben wir fest an den endgültigen Sieg. Das Schlachtfeld sind die Köpfe der Bewohner des Planeten Erde. Auf diesem Schlachtfeld werden wir herrschen."

Wie erfolgreich die einzelnen Kampagnen tatsächlich waren, lässt sich schwer sagen. Soziale Medien löschen regelmäßig Desinformationsbeiträge. Zudem haben französische und deutsche Behörden schon früh öffentlich vor der Kampagne mit den gefälschten Nachrichtenseiten gewarnt. Einige Posts aus den internen Plänen der Agentur konnten WDR, NDR und SZ dennoch im Netz aufspüren. Diese fanden allerdings eine eher überschaubare Verbreitung. In jedem Fall zeigt der Blick in das Leak, mit welchem Aufwand Russland versucht, westliche Demokratien zu destabilisieren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 16. September 2024 um 18:00 Uhr.