"Jahrhundertgift" PFAS Auf die lange Bank
Schon lange ist bekannt, wie gefährlich PFAS-Chemikalien für Mensch und Natur sein können - trotzdem sind sie nach Recherchen von NDR, WDR und SZ bis heute in Deutschland kaum reguliert. Damit kämpfen regionale Wasserversorger.
In Regenjacken, Bratpfannen und Zahnseide, in Skiwachs, Mascara oder Handys: Die Chemikalien der PFAS-Gruppe sind in einer Vielzahl an Produkten. Gleichzeitig stehen sie in Verdacht, Krebs zu verursachen, unfruchtbar zu machen und die Reaktion auf Impfungen zu schwächen. Trotzdem gibt es in Deutschland bis heute keine verbindlichen Regeln für die Entsorgung von PFAS in Wasser, Luft und Boden.
Auch für das Grund- und Trinkwasser gibt es bisher keine Grenzwerte. In den vergangenen Monaten haben NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) mehr als 150 private und kommunale Wasserversorger in Deutschland kontaktiert, um herauszufinden, inwieweit sie ihr Wasser auf PFAS prüfen. Manche von ihnen versorgen knapp 2500 Einwohner täglich mit Trinkwasser, andere rund 740.000.
Keine Testpflicht für Wasserversorger
Ähnlich heterogen ist ihr Umgang mit den Chemikalien: Während einige schreiben, dass sie ihr Wasser auf die Chemikalien untersuchen, testen es andere gar nicht. "Auf PFAS wird bisher noch nicht untersucht, da es hierzu noch keine Pflicht gibt", teilen viele Versorger mit. Ohne ein entsprechendes Gesetz gibt es eben keine systematische Kontrolle.
Das soll sich 2026 ändern, dann soll der erste von zwei neuen verbindlichen Grenzwerten für PFAS im Trinkwasser gelten. Der zweite, der für vier besonders bedenkliche Stoffe maximal 20 Nanogramm pro Liter vorsieht, soll zwei Jahre später kommen. Das sieht der Entwurf für eine Anpassung der Trinkwasserverordnung vor, der aktuell im Bundesrat liegt. Am 31. März soll das Gesetz verabschiedet werden.
Kontaminierung lange unreguliert
Aber in den Verordnungen für industrielles Abwasser und Abluft fehlen bis heute Grenzwerte für die Stoffgruppe. Es mag absurd klingen, aber was bei Trinkwasserversorgern künftig kontrolliert werden soll, kann an anderer Stelle unreguliert in die Umwelt und somit in Wasser und Boden gelangen - zum Beispiel durch PFAS-haltiges industrielles Abwasser oder PFAS-haltige Feuerlöschschäume, die jahrzehntelang benutzt wurden.
Löschschaum gehört zu den wichtigsten Verursachern von PFAS-Verunreinigungen.
Bereits 2010 hatten die Umweltminister der Bundesländer die Bundesregierung gebeten, einheitliche Messverfahren für PFAS vorzuschreiben und Grenzwerte festzulegen. Heute - 13 Jahre später - gibt es die immer noch nicht.
Industrie sah "Vorverurteilung"
Im Jahr 2016, zehn Jahre nach dem ersten Verbot einer PFAS-Chemikalie, veröffentlichte die Länderarbeitsgruppe Wasser einen Bericht zu Mikroschadstoffen in deutschen Gewässern. Das Bundesumweltministerium stellte daraufhin eine Arbeitsgruppe zusammen, um eine "Mikroschadstoffstrategie" zu entwickeln. Der Gruppe gehörten auch zahlreiche Industrievertreter an. Darunter die Großkonzerne Bayer und BASF sowie der Verband der Chemischen Industrie (VCI).
Gleich in einer der ersten Sitzungen baten die Industrievertreter darum, das Wort "Mikroschadstoffe" zu ersetzen. Die Argumentation: Es führe zu einer "Vorverurteilung ihrer Produkte", erzählt ein Teilnehmer später. Fortan tagte stattdessen der "Spurenstoffdialog". Von "Mikroschadstoffen" könne erst gesprochen werden, wenn Stoffe schädlich seien, sagen VCI und BASF auf Anfrage.
Ministerium setzt auf Freiwilligkeit
Zur Verminderung der Stoffe "wollten wir grundsätzliche Regelungen erarbeiten, damit das auch wirklich mal im Gesetz steht", sagt Kurt Eggeling, der den Umweltschutzverband BUND im Spurenstoffdialog vertrat. Das Bundesministerium hingegen empfahl "die freiwillige Umsetzung von Maßnahmen".
Bis zu den Bundestagswahlen 2017 sollte eine bundesweite Spurenstoffstrategie erarbeitet sein. Das geht aus mehr als 1000 Seiten internen Unterlagen hervor, die NDR, WDR und SZ mit Hilfe des Umweltinformationsgesetzes (UIG) vom Bundesumweltministerium erhalten haben. Auch diese Strategie gibt es bis heute nicht.
Einige Punkte aus dem Spurenstoffdialog flossen in den Koalitionsvertrag 2017 ein. "Es gibt ein, zwei Sätze, die übernommen wurden. Es ist nicht viel und es ist schwammig", sagt Ingo Warnke vom Umweltbundesamt (UBA) heute. Anschließend wurden Empfehlungen für freiwillige Maßnahmen erarbeitet, die mittlerweile umgesetzt würden.
Industrie und Ministerium trotzdem zufrieden
Auf Anfrage bewertet der Verband der Chemischen Industrie den Spurenstoffdialog als "positiv, da die Ergebnisse fokussiert und lösungsorientiert waren." Laut BASF seien "umfassende und direkte Verbote nicht immer der richtige Weg zum Ziel", besonders, wenn es sich um Produkte mit einem "wertvollen Nutzen für den Menschen" handele. Bayer äußerte sich auf Anfrage nicht dazu.
Auch das Bundesumweltministerium bewertet den Dialog als ein "hilfreiches Instrument, um die betroffenen Akteure zusammenzubringen, zu sensibilisieren und die gesamte Breite möglicher Lösungsansätze zu entwickeln." Die Frage, wer für die Kosten der freiwilligen und potenziell verpflichtenden Maßnahmen, wie beispielsweise zur Wasserreinigung, am Ende aufkommen solle, wurde im Spurenstoffdialog ausgeklammert.
Industrievertreter sieht Bürger in der Pflicht
Thomas Kullick vom Verband der Chemischen Industrie leitete die Arbeitsgruppe für die freiwilligen Maßnahmen und sagte 2022, es sei nur konsequent, "wenn der Bürger für seine Lebensgewohnheiten" und deren Folgen "auch letztendlich finanziell" aufkomme.
Das Verursacherprinzip sei in der Wasserversorgung komplett ausgehebelt, kritisiert dagegen Martin Weyand vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (bdew). Die Industrie stehle sich aus der Verantwortung, indem sie sage: "Wir kriegen weiterhin die Lizenz zur Verschmutzung und die anderen müssen sich darum kümmern, wie sie das Zeug wieder rausholen und haben es auch noch zu bezahlen."
Das Bundesgesundheitsministerium schreibt auf Anfrage, dass die Wasserpreise grundsätzlich durch die neue Trinkwasserverordnung steigen könnten. Konkret rechne man mit "einer Erhöhung von 0,46 Euro bis maximal 4,60 Euro pro Person und Jahr". Eine mögliche Verantwortung der Industrie wird mit keinem Wort erwähnt.
Grad der Verschmutzung noch nicht absehbar
Das tatsächliche Ausmaß der PFAS-Belastung in Deutschland könnte sogar erst in vielen Jahren sichtbar werden. Es dauert, bis Stoffe durch den Boden ins Grundwasser sickern, mitunter Jahrzehnte. Ein warnendes Beispiel könnte das Pflanzenschutzmittel Atrazin sein. Jahrelang war es im Einsatz und wurde großflächig genutzt, heute ist es der am häufigsten gefundene Wirkstoff im Grundwasser. Verboten wurde Atrazin bereits 1991.
Das "Forever Pollution Project" wurde finanziell unterstützt vom Journalismfund.eu und von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) und umgesetzt mit Hilfe von Arena for Journalism in Europe und deren Food & Water-Netzwerk. Neben SZ, NDR und WDR waren die folgenden Medien beteiligt: Le Monde (Frankreich), Knack (Belgien), Denik Referendum (Tschechien), Politiken (Dänemark), YLE (Finnland), Reporters United (Griechenland), Radar und Le Scienze (Italien), Radio Latvia (Lettland), The Investigative Desk und NRC (Niederlande), SRF (Schweiz), Datadista (Spanien), Watershed Investigations und The Guardian (Großbritannien).