Steuerskandal Cum-Ex Chefermittlerin kündigt überraschend und übt Kritik
Ihre Ermittlungen führten zu ersten Urteilen im Steuerskandal Cum-Ex und brachten Kanzler Scholz in Erklärungsnot: Anne Brorhilker verlässt nach WDR-Informationen die Justiz, um an anderer Stelle gegen Finanzkriminalität zu kämpfen.
Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin verlässt nach Informationen von WDR-Investigativ die Justiz. Anne Brorhilker hat danach am Montagvormittag bei der Generalstaatsanwaltschaft eine "Bitte um Entlassung aus dem Beamtenverhältnis" eingereicht. Die 50-jährige Oberstaatsanwältin leitet die eigens für den größten deutschen Steuerskandal eingerichtete Hauptabteilung, die derzeit gegen mehr als 1.700 Beschuldigte ermittelt.
Geschätzte zwölf Milliarden Euro sollen die Cum-Ex-Geschäfte die Steuerzahler gekostet haben. Banker, Berater und Aktienhändler ließen sich Steuern erstatten, die nie jemand gezahlt hatte - ein Griff in die Staatskasse.
Ermittlungen seit zwölf Jahren
Brorhilker ermittelt seit 2012 Cum-Ex-Fälle. Mit ihrem Team gelang es ihr, Kronzeugen zu gewinnen, die erstmals über die verborgenen Geschäfte auspackten. Ihre Anklage führte 2019 zum ersten rechtskräftigen Urteil. Später brachten die Ermittler den einst in die Schweiz geflohenen "Mr. Cum-Ex" Hanno Berger in Deutschland vor Gericht. Der Steueranwalt wurde vor dem Landgericht Bonn zu acht Jahren Gefängnis rechtskräftig verurteilt.
Öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren Brorhilkers Ermittlungen auch, weil sie bis in die hohe Politik führten. Die Erkenntnisse um die Hamburger Privatbank MM Warburg brachten schließlich auch Bundeskanzler Olaf Scholz in Erklärungsnot, gegen den aber kein Anfangsverdacht besteht.
"Schwach aufgestellte Justiz"
Im Interview mit WDR-Investigativ sagte Brorhilker zu ihrer Entscheidung: "Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird. Da geht es oft um Täter mit viel Geld und guten Kontakten, und die treffen auf eine schwach aufgestellte Justiz." Außerdem könnten sich Beschuldigte oft aus Verfahren schlicht herauskaufen, wenn etwa Verfahren gegen Geldbuße eingestellt würden. "Dann haben wir den Befund: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen." Sie als einzelne Staatsanwältin könne daran wenig ändern.
Die Politik, so Brorhilkers Fazit, habe elf Jahre nach Bekanntwerden der ersten Cum-Ex-Fälle noch immer nicht hinreichend reagiert. Der Steuerdiebstahl sei längst nicht gestoppt, es gebe Nachfolgemodelle, wie bei einem "Hase-und-Igel-Spiel". Grund seien fehlende Kontrollen, was bei Banken und auf den Aktienmärkten geschehe. "Wenn keine Kontrolle passiert durch staatliche Organe, dann greifen die Menschen in die Auslagen. Aber wenn da eine Videokamera über der Auslage installiert ist, dann denkt man dreimal darüber nach, ob man zugreift."
Um das Problem zu lösen, spricht sich die Strafverfolgerin für mehr Personal in der Strafverfolgung und für eine bundesweite zentrale Behörde zur Bekämpfung von Finanzkriminalität aus, die auch Steuervergehen verfolge.
Rückschlag für Aufarbeitung
Ihre Entscheidung, die Staatsanwaltschaft zu verlassen, könne man mit der eines Arztes vergleichen, der "entscheidet, nicht mehr länger einzelne Kranke zu behandeln, sondern in die Forschung geht, um eine Therapie zu entwickeln, das Übel quasi an der Wurzel zu fassen." Brorhilker kündigte an, sich künftig als Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation Finanzwende für solche Ideen für den Kampf gegen Finanzkriminalität einzusetzen. Finanzwende bestätigte die Personalie. Finanzwende-Vorstand Gerhard Schick erklärte: "Ich freue mich, dass Anne Brorhilker ihren Kampf für die Aufklärung von Finanzkriminalität neu ausrichten will - bundesweit und auf Seiten der Zivilgesellschaft."
Für die Ermittlungen dürfte Brorhilkers Ausscheiden indes ein Rückschlag bedeuten. Der Cum-Ex-Skandal ist längst noch nicht aufgeklärt. Milliardengewinne mit Cum-Ex-Geschäften liegen noch immer bei vielen betroffenen Banken. Die Rolle namhafter beteiligter Geldhäuser, etwa der Deutschen Bank, Merrill Lynch oder Santander ist noch nicht strafrechtlich aufgearbeitet, ebenso wenig wie die von Landesbanken wie der früheren WestLB und der HSH Nordbank.
Widerstände in der Justiz
Die Gefahr, dass die Ermittlung mit ihrem Ausscheiden ins Stocken geraten könnte, sieht Brorhilker nicht. "Wir haben mittlerweile ein großes Team, es sind über 30 Staatsanwälte, die engagiert an diesen Themen arbeiten. Es sind vier Abteilungen gegründet worden mit vier Abteilungsleitern. Deswegen sind wir gut aufgestellt, und ich finde, meine Kollegen machen eine hervorragende Arbeit. Wenn man sie weiterhin unterstützt, wird das auch weiterhin gut laufen."
Trotz der warmen Worte zum Abschied: In der Vergangenheit stieß Brorhilker in der NRW-Justiz immer wieder auch auf Widerstände. Etwa 2020, als sie im Verfahren der Hamburger Privatbank MM Warburg dem Verdacht nachging, ob Hamburger Finanzbeamte und SPD-Politiker der Bank 2016 geholfen haben, Cum-Ex-Beute zu behalten. Brorhilker wollte durchsuchen, ein entsprechender Beschluss lag bereits bei der Amtsrichterin. Doch Brorhilkers Vorgesetzte in der Staatsanwaltschaft stoppten den Vorgang.
Die Ermittlerin hätte ihnen den Antrag zunächst vorlegen müssen, so die Begründung. Es folgte eine einjährige Auseinandersetzung, bis die Razzia schließlich doch stattfinden konnte. Im Interview wollte sich Brorhilker nicht zu dem Vorgang äußern, auch nicht dazu, ob sie sich hinreichend im eigenen Haus unterstützt fühlte.
Machtkampf mit dem Justizminister
Auch mit dem nordrhein-westfälischen Justizministerium hatte es Konflikte gegeben. Über einen Machtkampf hatte im vergangenen Herbst unter anderem WDR-Investigativ berichtet. Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) plante, Brorhilkers Abteilung aufzuspalten und ihr einen weiteren Hauptabteilungsleiter zur Seite zu stellen. Eine einzelne Führungskraft, so der Minister, könne der enormen Aufgabenfülle nicht Rechnung tragen. Außerdem müsse die Leitung der Cum-Ex-Ermittlung durch eine weitere Person abgesichert sein.
Erst nach einem öffentlichen Aufschrei nahm Limbach von den Plänen wieder Abstand.
Im Interview äußert sich Brorhilker nun erstmals zu der Auseinandersetzung: "Ich war über die Pläne, meine Hauptabteilung aufzuspalten, schon sehr überrascht. Ich habe das damals auch nicht als die Unterstützung verstanden, als die es gedacht gewesen sein sollte." Inzwischen habe es jedoch gute Gespräche gegeben. Das Ministerium habe vier weitere Stellen geschaffen. Grund für ihr Ausscheiden aus der Justiz sei der Streit nicht gewesen.
"Enorme Schadenssummen"
Nicht nur intern, auch extern gab es auch immer wieder Kritik am Vorgehen der Kölner Staatsanwältin. Etwa, dass Brorhilker viel zu schnell Ermittlungen eingeleitet habe, viel zu breit ermittele und sich dabei verzettele. "Das ist keine strategische Entscheidung zu überlegen, ob man als Staatsanwalt eine Straftat verfolgt oder nicht, man muss das tun. Wenn man es nicht tun würde, wäre das Strafvereitelung im Amt", sagte Brorhilker. Dass sie auf ein derart großes Geflecht stoßen würde, habe sie allerdings selbst nicht kommen sehen.
Auch den Einwand, man könne die Cum-Ex-Gelder wesentlich schneller zurück in die Staatskasse holen, wenn man die Strafverfahren gegen Geldbuße einstelle, will Brorhilker nicht gelten lassen: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das umsetzen will bei den Rahmenbedingungen, die wir bei den Cum-Ex-Ermittlungen vorfinden. Es geht um enorme Schadenssummen. Die sind im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich, manchmal im Milliardenbereich. Das ist ein Bereich, der eine Einstellung wegen geringfügiger oder wegen mittlerer Schuld nicht zulässt."
Zudem bekomme man bei solchen Deals nie die komplette Schadenssumme zurück. "Wenn es hoch kommt, bieten Beschuldigte die Hälfte, aber auf gar keinen Fall den vollen Betrag. Und das ist ja absurd, warum sollten wir uns da ausnehmen lassen wie eine Weihnachtsgans?"
Ob man das bei der Staatsanwaltschaft Köln in Zukunft genauso sehen wird, bleibt abzuwarten. Anne Brorhilker wird es künftig von der Seitenlinie aus beobachten.
Eine Langversion des Exklusiv-Interviews mit Staatsanwältin Brorhilker findet sich in der ARD-Mediathek. Außerdem findet sich in der ARD-Mediathek die ARD-Story "Milliardenraub – Eine Staatsanwältin jagt die Steuermafia".