Ein ICE der Deutschen Bahn fährt auf einem sanierten Streckenabschnitt
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Stundenlanges Warten auf Evakuierung Chaotisches Notfallmanagement bei der Bahn

Stand: 22.08.2023 18:43 Uhr

Diesen Sommer steckten Tausende Bahnreisende oft stundenlang in Zügen ohne funktionierende Klimaanlage fest, weil unter anderem der Strom ausfiel. Recherchen von Report Mainz zeigen Probleme beim Notfallmanagement der Deutschen Bahn.

Von Mona Botros und Claudia Kaffanke, SWR

Es ist ein warmer Sonntag im Juni, als die Journalistin Sabine Kinkartz in Leipzig in den ICE steigt. Der Zug ist sehr voll. Plötzlich bleibt der Zug mitten auf der Saale-Elster-Brücke stehen, in 21 Metern Höhe. Sabine Kinkartz und 800 anderen Fahrgäste sind gefangen. Ohne Lüftung und Klimaanlage sei es sehr schnell sehr heiß geworden, erzählt Kinkartz: "Und dann drehten sich Leute vor mir um und sagten, da hinten liegt jemand auf dem Boden. Und wenn da jemand kollabiert ist, dann weiß man, das kann dir auch passieren."

Report Mainz wurden diverse interne Protokolle der Deutschen Bahn zugespielt. Auch das Protokoll für die oben beschriebene ICE-Fahrt. Um 16:20 Uhr notiert der Zugführer: "Temperatur im Zug für Fahrgäste nicht mehr auszuhalten. Zwei Fahrgäste sind bereits kurz vor dem Kreislaufzusammenbruch." Daraufhin schrieb die Leitstelle: "Die Lage im Zug ist sehr angespannt und durch das Zugbegleitpersonal nicht mehr beherrschbar." Am Ende dauert es etwa fünfeinhalb Stunden bis zur kompletten Evakuierung.

Keine offiziellen Statistiken zu Zugevakuierungen

Nach Recherchen von Report Mainz sind Zugevakuierungen auf offener Strecke in Deutschland nicht meldepflichtig. Das bestätigt das Eisenbahnbundesamt als zuständige Aufsichtsbehörde. Für Zahlen verweist es auf die Bahnunternehmen selbst.

Auf Nachfrage teilt die Deutsche Bahn AG mit, bei 0,004 Prozent der Zugfahrten würde es zu Evakuierungen auf offener Strecke kommen. Eine scheinbar verschwindend geringe Zahl. Doch täglich rollen rund 39.000 Personenzüge auf dem deutschen Schienennetz. Jeden Tag bleiben im Schnitt also 1,56 Züge irgendwo auf offener Strecke liegen, die evakuiert werden müssen - im Durchschnitt 47 Züge im Monat.

Lebensgefahr für gestrandete Bahnreisende

Das sieht Professor Markus Hecht von der Technischen Universität Berlin kritisch: "Wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, dann muss reagiert werden, auch wenn es keine Opfer gab." Ein liegengebliebener Zug auf offener Strecke könne für die Reisenden schnell gefährlich werden, besonders dann, wenn es keine Stromversorgung mehr gebe.

"Wenn die Lüftung in den Fahrzeugen ausfällt, dann fällt viel CO2 an. Und es besteht tatsächlich Erstickungsgefahr, weil die Fenster sich in den modernen Zügen nicht öffnen lassen und kein Luftaustausch mehr stattfindet. Menschen können dann leicht in Panik geraten", erklärt Hecht. Eine Flucht auf ungesicherte Gleise berge Lebensgefahr durch Stromschlag oder Kollision mit einem Zug auf dem Gegengleis.

Notfallmanager oft später am Einsatzort als vorgeschrieben

Um solche Gefahren zu vermeiden, muss bei jeder Zugevakuierung in Deutschland ein so genannter Notfallmanager der Deutschen Bahn anwesend sein. Seine Aufgabe ist es, den Strom an der Oberleitung abzuschalten und die Gleisanlagen zu sichern. Nach dem DB-Regelwerk sollte dieser "nach maximal 30 Minuten" am Einsatzort verfügbar sein, doch Recherchen von Report Mainz zeigen, dass es oft länger dauert.

Das bestätigt Thomas Egelhaaf, Landesbranddirektor und Mitglied im Ausschuss der Innenministerkonferenz zu Feuerwehrangelegenheiten und Katastrophenschutz: "Permanent wird schon der Wunsch geäußert, darauf hinzuwirken, dass diese 30 Minuten, die in den Konzepten drin sind, auch als maximaler Wert angesetzt werden." Es zeige sich, dass in vielen Fällen die Zeiten überschritten werden. Und: so lange der Notfallmanager nicht vor Ort ist, dürfen Feuerwehr und Polizei nicht mit Evakuierungsmaßnamen beginnen.

"Kritikwürdige Evakuierungsfälle" werden geprüft

Seit Monaten beobachtet Andreas Büttner eine Häufung von Zugevakuierungen in seinem Bundesland. Der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion in Brandenburg forderte deshalb Aufklärung von der Landesregierung. Konkrete Angaben zu den Zahlen, bekommt er nicht. "Das zeigt wieder, in welch irrer Situationen wir eigentlich sind. Da sind Menschenleben in Gefahr, und niemand meldet irgendetwas. Keiner führt angeblich irgendwelche Statistiken, und keiner ist in der Lage, irgendeine Auskunft zu geben."

Offiziell scheint man sich jetzt mit Fällen von Zugevakuierungen zu befassen. Auf Nachfrage teilt das Bundesverkehrsministerium mit: "Derzeit geht die Aufsicht des Eisenbahnbundesamtes im Rahmen von Verwaltungsverfahren konkreten, möglicherweise kritikwürdigen Evakuierungsfällen nach." Wegen der "laufenden Verfahren", möchte das Eisenbahnbundesamt keine weitere Auskunft geben.

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