Infrastrukturprobleme Deutschland bremst Europas Bahnen aus
Schnelle Zugverbindungen zwischen europäischen Metropolen und Nachtzüge könnten Flüge künftig ersetzen. Doch die Infrastruktur der Deutschen Bahn steht dem laut "Bahn für Alle" im Weg.
Von Stockholm über Malmö und Hamburg nach Berlin. Verbindungen zwischen Zürich via Köln bis Amsterdam. Über Österreich nach Mailand, Florenz oder Rom sind heute schon im Angebot. Nacht- und Fernreisezüge könnten ein zentraler Baustein für den Klimaschutz sein. Der Ausbau von Hochgeschwindigkeitszügen zwischen den europäischen Metropolen und internationale Urlaubszüge könnten in Zukunft Flugreisen ersetzen.
Für die Deutsche Bahn wurden Nachtzüge in der Vergangenheit zum Verlustgeschäft, sie stellte das unrentable Nischengeschäft 2016 ein. Seitdem sind private Anbieter und ausländische Bahngesellschaften nachgerückt. Der grenzüberschreitende Fernverkehr ist auf die Harmonisierung der Europäischen Schienennetze angewiesen.
Doch gerade hier bremst Deutschland - das geht aus bisher unveröffentlichten Zwischenergebnissen eines Projektes hervor, die dem SWR exklusiv vorliegen. Auf europäischer Ebene blockierte Deutschland bisher außerdem einheitliche Zertifizierungsverfahren für den Personenverkehr.
Schlusslicht Deutschland
Hintergrund der Kritik ist ein vom Umweltbundesamt gefördertes Konzeptpapier des Bündnisses "Bahn für Alle", ein Aktionsbündnis von Umweltorganisationen und Gewerkschaften. Bis 2023 sollen Handlungsempfehlungen zum Klimaschutz mit Nacht- und Fernreisezügen entwickelt werden, öffentliche Fachgespräche folgen.
Doch schon wenige Monate nach Projektbeginn zeichnet sich für Studienleiter Ludwig Lindner ab, dass gerade die Infrastruktur der Deutschen Bahn einer Harmonisierung des Europäischen Bahnverkehrs im Wege steht. Bei der Bewertung des Harmonisierungsfortschritts europäischer Bahnsysteme landet Deutschland demnach im Vergleich von 23 EU-Staaten plus Schweiz gemeinsam mit Schweden und Portugal auf dem drittletzten Platz. Nur Estland und Lettland schneiden noch schlechter ab. Dänemark und Luxemburg stehen auf dem ersten Platz.
"Die unzureichende Anpassung der deutschen Bahninfrastruktur an internationale Standards bremst den Fernreise- und Nachtzugverkehr in ganz Europa aus", kommentiert Ludwig Lindner, Studienautor und Sprecher von "Bahn für Alle" die Ergebnisse seiner Recherchen gegenüber dem SWR. "Klar ist: Um das Klima im Verkehrssektor zu schützen, müssen Flüge und Straßenverkehr auf Züge verlagert werden. Das gelingt aber nur, wenn Deutschland - als größte europäische Volkswirtschaft und geographisch in der Mitte gelegen bei der Vereinheitlichung vorangeht und nicht hinterherhinkt."
Gleich mehrere technische Unterschiede
In drei Kernbereichen der geforderten Harmonisierung weiche Deutschland nach den Ergebnissen von "Bahn für Alle" bisher vom europäischen Standard ab. So erschwere die unterschiedliche Bahnsteighöhe den barrierefreien Fernverkehr.
In vielen EU-Staaten hat sich der 55-cm-Standard durchgesetzt. In Deutschland galt das nur für die DDR. Hierzulande herrscht vor allem an Fernverkehrsbahnsteigen eine Höhe von 76 cm vor. Während in vielen Ländern Europas die Bahnen mit einer Spannung von 25 kV und einer Frequenz von 50 Hertz betrieben werden, was der Frequenz des europäischen Verbund-Stromnetzes entspricht, hat sich in Deutschland historisch ein Bahnstrom mit 15kV und 16,7 Hz etabliert.
Auf Nachfrage widerspricht die Bahn der Kritik. Weder die unterschiedliche Bahnsteighöhe noch die unterschiedlichen Bahnstromsysteme ständen dem internationalen Verkehr im Wege. Ein Sprecher der Bahn verweist auf die heute üblichen Mehrsystemtriebwagen und -lokomotiven, die unabhängig von Frequenz und Spannung auf der Oberleitung fahren könnten.
Schriftlich erklärte die Bahn dem SWR: "Eine Umstellung des Stromsystems auf 25 kV / 50 Hz würde mit dem Umbau von Oberleitungen auf ca. 20.000 elektrifizierten Streckenkilometern sowie dem Neubau von Tunneln und Brücken einhergehen, da bei höheren Spannungen auch höhere Abstände eingehalten werden müssen."
Eine Modellreihe des ICE 3 kann in mehreren Bahnsystemen fahren. Allerdings wurden nur wenige Exemplare mit dieser Fähigkeit gebaut.
Multisystemloks verteuern Bahnverkehr
In der Kurzstudie heißt es dazu: "Es gilt zu entscheiden, ob man auf lange Sicht im grenzüberschreitenden Verkehr auf teure Multisystemloks setzen will oder ob - mit zunächst hohem Ressourceneinsatz - die Systeme harmonisiert werden, um dann den Bahnverkehr langfristig deutlich flexibler und kostengünstiger betreiben zu können."
In jedem Fall führen die nationalen Unterschiede in Bahnsteighöhen und Bahnstromversorgung zu erheblichen Mehrkosten und zu den von allen Bahnreisenden gefürchteten "Verzögerungen im Betriebsablauf", etwa durch den Wechsel von Triebwagen bei Nachtzügen an den Systemgrenzen.
Deutschland hinkt Sicherheitsumrüstung hinterher
Bei der Zugsicherungstechnik konnte man sich EU-weit auf das European Train Control System (ETCS) als einheitlichen Standard einigen. Der ETCS-Ausbau kommt nach der Analyse von Ludwig Linder allerdings unterschiedlich schnell voran. Während Luxemburg und die Schweiz bereits ihr gesamtes Netz auf ETCS umgerüstet hätten, hinke Deutschland hier deutlich hinterher. Hier sind bisher nur 406 Kilometer umgestellt.
Auf die Kritik an der schleppenden Harmonisierung der Leit- und Sicherheitstechnik entgegnet die Bahn dem SWR schriftlich:
Bis 2035 erneuert die DB die Leit- und Sicherungstechnik im Schienennetz grundlegend, unter anderem durch den Flächen-Rollout des europäischen Zugbeeinflussungssystems ETCS (European Train Control System), den Ausbau Digitaler Stellwerke (DSTW) und das integrierte Leit- und Bediensystem. Neben der Schnellfahrstrecke Berlin - München sind die Grenzbetriebsstrecken in der Schweiz sowie die erste Baustufe der Ausbaustrecke Berlin - Dresden mit ETCS in Betrieb gegangen.
EU beklagt nationale Genehmigungsverfahren
Kritik an der schleppenden Einführung der neuen Leit- und Sicherheitstechnik kommt auch von der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA). Doch für Josef Doppelbauer, dem Leitenden Direktor der ERA, ist Deutschlands Blockadehaltung bei der europaweiten Genehmigung von Zügen im Personenverkehr noch entscheidender.
"Was wir dringend brauchen, ist eine einheitliche europaweite Zulassung von Reisezugwagen", erklärt Doppelbauer dem SWR. Während seine Agentur europaweit für die Zulassung von Güterzügen zuständig sei, benötigen Reisezugwagen die jeweils nationale Zulassung. Dies mache die Genehmigung kompliziert, langwierig und teuer. Außerdem könnten einzelne Staaten den Prozess blockieren.
Ein weiteres Problem für die Betreiber sei auch, dass sie die Züge später nicht einfach in anderen Ländern der EU einsetzen könnten, was den Wiederverkaufswert stark vermindere. "Deutschland hat 2019 auf europäischer Ebene verhindert, dass wir hier ein einheitliches, schlankes Genehmigungsverfahren hinbekommen", beklagt Doppelbauer.
Am 8. Februar werde erneut abgestimmt, dann könne Deutschland ja seine Blockadehaltung bei der einheitlichen Zulassung von europäischen Personenzugwagen revidieren, hofft Doppelbauer mit Blick auf die Ziele der Ampelregierung.