Historische Verhandlung am BGH KZ-Sekretärin als Gehilfin der Massenmörder?
Es könnte der letzte KZ-Prozess sein. Der Bundesgerichtshof hat heute den Fall einer früheren KZ-Sekretärin verhandelt. Irmgard F. hatte sich gegen ihre Verurteilung wegen Beihilfe zum Massenmord gewehrt.
Wenn Richterinnen und Richter bei öffentlich wichtigen Prozessen den Saal betreten, verharren sie meist einige Augenblicke, um Kameraleuten und Fotografinnen Gelegenheit zum Bildermachen zu geben. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) verharrte heute sehr lange stehend im großen Sitzungssaal des früheren Reichsgerichtsgebäudes in Leipzig. Dabei war es sehr ruhig im bis auf den letzten Platz besetzten Verhandlungssaal.
Etwas von einer Schweigeminute hatte das. Einer Schweigeminute für die mehr als 60.000 Menschen, vor allem Juden, die im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig ermordet worden sind.
Kein persönliches Schuldeingeständnis
Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen im Konzentrationslager Stutthof hatte das Landgericht Itzehoe die heute 99-jährige Irmgard F. verurteilt, zu zwei Jahren auf Bewährung. In dem Prozess vor dem Landgericht hatte Irmgard F. sich 2022 kurz zu den Vorwürfen gegen sie während ihrer Zeit als Sekretärin im KZ Stutthof geäußert. Sie sagte, es tue ihr leid, was alles geschehen sei, und dass sie es bereue, dass sie zu der Zeit gerade in Stutthof gewesen sei. Ein Eingeständnis ihrer persönlichen Schuld war das nicht, denn sie hat das Urteil gegen sie nicht akzeptiert und Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.
Keine Übernahme von Mitverantwortung für die Massenmorde im KZ Stutthof also, beispielsweise für den Mord an dem Vater von Josef Salomonovic. Josef Salomonovic war drei Jahre alt, als er 1941 mit seiner jüdischen Familie deportiert wurde. Als Kind überlebte er acht Konzentrationslager, auch das KZ Stutthof bei Danzig.
Dort wurde am 17. September 1944 Josef Salomonovics Vater ermordet. Heimtückisch mit einer Giftspritze, als er auf der Krankenstation des KZ Stutthof um Medikamente gebeten hatte. Der Mord wurde, wie oft in den Konzentrationslagern, genau dokumentiert. Es ist gut möglich, dass das KZ-Dokument damals durch die Hände von Irmgard F. ging.
Hatte die KZ-Sekretärin eine zentrale Position?
Irmgard F. war Stenotypistin im Büro des Lagerkommandanten von Stutthof. Sie organisierte damals den gesamten Schriftverkehr von Lagerkommandant Paul Werner Hoppe. In dem Prozess vor dem Landgericht Itzehoe sah es das Gericht als erwiesen an, dass Irmgard F. im Büro des Lagerkommandanten eine wichtige Rolle innehatte. Sie habe die Arbeit des Kommandanten, also auch die Massenmorde im Lager, unterstützt und gefördert.
Die Revision gegen dieses Urteil wurde heute vor dem 5. Strafsenat des BGH verhandelt, der in Leipzig sitzt. Es ging um eine Grundsatzfrage: Kann auch eine Sekretärin in einem KZ der Nazis Gehilfin beim tausendfachen Massenmord gewesen sein?
Der Verteidiger von Irmgard F. plädierte in der heutigen Verhandlung auf Freispruch. F. sei nicht mit SS-Wachmännern in den Vernichtungslagern vergleichbar. Ihre Tätigkeiten in der Schreibstube des KZ seien neutrale Handlungen gewesen ohne hinreichende Bezüge zu den Mordtaten.
Der Vertreter der Bundesanwaltschaft widersprach dem deutlich. Irmgard F. habe im KZ Stutthof als Sekretärin des Lager-Kommandanten eine einzigartige Stellung innegehabt. Sie habe an der Schaltstelle gearbeitet, wo über Leben und Tod der KZ-Gefangenen entschieden wurde. Sie haben von den Morden gewusst und die Mordbefehle durch ihre Arbeit unterstützt. Deshalb habe sie Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen begangen.
Vielleicht der letzte KZ-Prozess in Deutschland
Hans-Jürgen Förster, Rechtsanwalt von Holocaustopfern und ihrer Angehörigen in dem Prozess, betonte nach der Verhandlung, dass man Irmgard F. als "Chefsekretärin des Kommandanten" bezeichnen könne. Sie sei auch die einzige Stenotypistin in dessen Büro gewesen. Sie habe den Schriftverkehr erstellt und dadurch dafür Sorge getragen, dass die Befehle des Lagerkommandanten in der "Hölle von Stutthof" Wirkung zeigten.
Irmgard F. habe durch ihre zentrale Position von den Verbrechen im Lager gewusst. Von ihrem Büro aus habe sie gesehen, was aus den Befehlen geworden ist. Sie habe einen Blick über das Lager gehabt, habe den Appellplatz und die Gaskammer gesehen und den Geruch des Krematoriums wahrgenommen.
"Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum"
Mehr als 60.000 Menschen, vor allem Juden, wurden in Stutthof ermordet. Rechtsanwalt Förster betont, wie wichtig das Verfahren sei, für das Erinnern an den Holocaust: "Mord verjährt nicht und die Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum, sowohl für die Täter, die Täterin in diesem Falle, als auch für die Opfer. Ich habe eine Zeugin im Ohr, die gesagt hat: Die Gelegenheit, vor Gericht ihr Erleben bekunden zu können, sei für sie, als hätte sie Blumen niedergelegt auf dem nicht vorhandenen Grab ihrer Angehörigen."
Das heutige Verfahren in Leipzig war vielleicht die letzte Verhandlung in einem KZ-Prozess in Deutschland. Verfahren wie das gegen Irmgard F. wurden möglich, weil der Bundesgerichtshof die Konzentrationslager mittlerweile als Teil einer "industriellen Tötungsmaschine" ansieht. Auch unterstützende Tätigkeiten können rechtlich als Beihilfe zum Mord verurteilt werden.
Ob auch die KZ-Sekretärin Irmgard F., die an wichtiger Stelle in die Organisation des Konzentrationslagers Stutthofs eingebunden war, Beihilfe zum Massenmord begangen hat, muss der BGH jetzt entscheiden. Ein Urteil soll am 20. August verkündet werden.