Holocaust-Überlebende Irene Butter "Ich habe überlebt - und angefangen zu reden"
Lange sprach Irene Butter nicht über den Holocaust - bis sie zu einem Gespräch über Anne Frank eingeladen wurde. Sie erkannte: Als Überlebende habe sie "eine Verantwortung, zu reden". Heute erhält sie das Bundesverdienstkreuz.
Irene Butter ist fast zwei Köpfe kleiner als die meisten Menschen um sie herum. Aber wenn die 93-Jährige anfängt zu sprechen, hören ihr alle zu. "Wenn du in den Konzentrationslagern warst, wenn du diese Luft gerochen und die Stille der Toten gehört hast, hast du die Pflicht, darüber zu reden. Sonst lässt du die Toten ein zweites Mal sterben", zitiert sie den Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. Auch er hat den Holocaust überlebt und die Welt immer wieder daran erinnert, was geschehen ist - einer der Gründe dafür, dass auch Butter ihre Geschichte in den letzten Jahren immer und immer wieder erzählt.
Geboren wurde sie 1930 in Berlin - als Irene Hasenberg. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen sind, entschieden ihre Eltern: In Deutschland können sie nicht bleiben. Also flohen sie 1937 mit Irene und ihrem Bruder Werner in die Niederlande - in das gleiche Viertel in Amsterdam wie auch Anne Frank und ihre Familie. Die glückliche Zeit hielt auch dort nur kurz an. 1940 übernahmen die Nazis auch dort die Macht. 1942 begannen die Deportationen.
"Es war eine sehr traurige Zeit, denn zu diesem Zeitpunkt wurden die Juden aus Amsterdam deportiert und so blieben die Schulbänke nach und nach leer", erinnert sie sich.
"Bergen-Belsen war ein furchtbares Lager"
So erging es auch Irene und ihrem Bruder Werner. Auf den Tag genau vor 81 Jahren - am 20. Juni 1943 - wurden sie zusammen mit ihren Eltern nach Westerbork deportiert, in ein sogenanntes Durchgangslager. Regelmäßig fuhren von dort Züge nach Auschwitz oder Sobibor, in die Vernichtungslager. Dass Butter und ihre Familie nicht dort landeten, liegt an einem Plan ihres Vaters.
Noch in Amsterdam hatte er für seine Familie ecuadorianische Pässe bestellt. Seine Hoffnung: als ausländische Juden von den Nazis eingetauscht zu werden - gegen im Ausland gefangen gehaltene deutsche Staatsbürger.
"Wir hatten die Pässe in Westerbork eigentlich schon aufgegeben. Und dann kam eines Tages ein Paket", erzählt Butter. "Es war wirklich ein Wunder, denn jetzt waren wir nicht mehr nur Juden, die ins Vernichtungslager deportiert werden sollten, sondern wir waren jetzt sogenannte Austauschjuden."
Als solche kamen Irene und ihre Familie Anfang 1944 ins niedersächsische KZ Bergen-Belsen - eine erträgliche Zwischenstation auf dem Weg in die Freiheit, hofften sie. Aber es kam anders: "Bergen-Belsen war ein furchtbares Lager. Grausam. Meine Eltern mussten hart arbeiten, sechseinhalb Tage die Woche, von frühmorgens bis abends. Es gab kaum etwas zu essen. Aber am schlimmsten waren die hygienischen Bedingungen."
Irene Butter zeigt beim Termin mit der ARD eine Decke, die für sie ein wichtiges Erinnerungsstück ist. Die Decke ist 90 Jahre alt und Butter hat es geschafft, sie die ganze Zeit zu behalten.
Eine Täuschung verschafft den Ausweg
Auch Anne Frank traf Irene dort noch einmal wieder - sie sahen einander durch einen Stacheldraht getrennt, denn die sogenannten Austauschjuden waren in einem anderen Teil des Lagers untergebracht. Anne Frank starb in Bergen-Belsen.
Irene Butter und ihre Familie durften das Lager dank eines weiteren Wunders verlassen - nach knapp einem Jahr dort sollte es doch noch zum Austausch kommen. Allerdings durften nur gesunde Menschen die Reise antreten.
"Mein Bruder und ich gingen zuerst zum Lagerarzt, und wir wurden zugelassen. Wir versuchten, auch meine Mutter hinzubringen, aber sie war zu krank und brach vorher zusammen. Dann kam mein Vater von der Zwangsarbeit zurück und war auch sehr krank, aber er war einverstanden, mit mir zum Arzt zu gehen", berichtet sie. "Der sah uns an und sagte: 'Ihre Kinder waren schon hier. Also machen Sie sich bereit, das Lager morgen zu verlassen'".
Die Frage, ob der Arzt sie tatsächlich für ihre Mutter gehalten hat - beide trugen nur Lumpen und wogen zu dem Zeitpunkt noch 35 Kilo - oder doch Mitgefühl hatte und wollte, dass ihre Familie zusammenbleibt, beschäftigt Irene Butter bis heute.
"Anne Frank wird nie wieder sprechen"
Für ihren Vater John Hasenberg kam der Austausch trotzdem zu spät. Er starb kurz darauf. Ihre Mutter Gertrude und ihr Bruder kamen ins Krankenhaus. Irene musste alleine weiterreisen - erst in ein Lager in Algerien, dann in die USA. Hier absolvierte sie die High School, ging aufs College und machte ihren Doktor im Bereich Wirtschaftswissenschaften. Später wurde sie Professorin an der Universität von Michigan.
Viele Jahrzehnte sprach Irene nicht über ihre Vergangenheit - bis sie zu einer Gesprächsrunde über Anne Frank eingeladen wurde und feststellte: "Anne Frank wird nie wieder sprechen. Aber ich bin hier, ich habe überlebt. Und so habe ich diese Verantwortung erkannt und angefangen zu reden." Das werde sie tun, sagt Butter, so lange sie kann.
Mitarbeit: Caroline Schmidt, NDR