10 Jahre "Stickstoffalarm" in Städten Mit Tempo 30 zu besserer Luft
Weil deutsche Städte lange Stickstoffdioxid-Grenzwerte überschritten, erhöhten Brüssel und Umweltschützer vor zehn Jahren den Druck. Maßnahmen wie Tempo 30 in Mainz folgten - mit Erfolg. Nun könnten bald weitere Schritte notwendig werden.
In dem Land, in dem das Auto erfunden wurde, schenkte auch an jenem Donnerstag erneut kaum jemand der EU-Umweltpolitik Aufmerksamkeit: Am 28. Februar 2013 rief die EU-Kommission für 33 deutsche Städte eine Art Stickstoffalarm aus.
Sie lehnte es ab, Fristen für das Einhalten von Stickstoffdioxid-Grenzwerten zu verlängern. Die Obergrenzen sollen endlich, hieß es damals aus Brüssel, notfalls auch mit drastischen Mitteln, eingehalten werden.
Dazu gehören für den damaligen EU-Umweltkommissar Janez Potocnik höhere Parkgebühren, strengere Umweltzonen, deutlichere Tempolimits oder eine Verbannung von mehr als zehn Jahre alten Autos aus den betroffenen Städten. Keine vollumfänglich freie Fahrt für freie Bürger mehr.
Brüssels Geduldsfaden schien gerissen: Zu lange lieferten deutsche Behörden keine Nachweise, dass sie die Luftqualität in den nächsten Jahren wesentlich würden verbessern können. Derweil stammt die dreckige Luft in den Innenstädten vor allem aus Emissionen des Straßenverkehrs, insbesondere aus Stickstoffdioxid (NO2) von Diesel-Fahrzeugen. Es ist wie Feinstaub ein gesundheitsgefährdender Schadstoff und dringt durch Türen, Fenster und Ritzen in die Schlafzimmer und Wohnstuben der Anwohner.
Mainzer Maßnahmenpaket zeigt Wirkung
So auch in Mainz, "mit hoher Verdichtung und engen Straßenräumen", wie es Fachleute beschreiben. Die Bundesstraße 40 führt durch die Innenstadt. Mitten auf ihr, zwischen zwei Fahrbahnen mit bis zu 20.000 Autos am Tag, umgeben von vielen Fußgängern, steht die Luftmessstation Parcusstraße. Ihre Fühler maßen nach Angaben des Umweltbundesamts mehrmals Werte jenseits des von der EU vorgegebenen Grenzwerts von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid je Kubikmeter Luft.
Bis zum Jahr 2020 - seither werden die Grenzwerte nicht mehr gerissen. Die Stadt führt das auf ein riesiges Maßnahmenpaket zurück, den "Green-City-Masterplan M³": genauere Verkehrsmessung mit Lkw-Zählstellen und Analyse des Radverkehrs; mehr Elektromobilität im Busverkehr und städtischen Fuhrpark; Umbauten an Ampeln für besseren Verkehrsfluss mit Zuflussdosierung aller Einfallsstraßen; und die für die meisten Mobilisten spürbarste Veränderung: Tempo 30 in der City.
"Mehr Lebensqualität" dank Tempo 30
So fahren in Mainz seit Juli 2020 motorisierte Verkehrsteilnehmer nicht mehr durch die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt, sie schleichen: Mit 30 Kilometern pro Stunde rund um die Uhr im kompletten Innenstadtbereich. In der Folge verringerten sich die Luftschadstoffe in der Mainzer Luft, vor allem der Ausstoß von Stickoxiden und Feinstaub sank jeweils um rund ein Fünftel. Nur die CO2-Belastung verringerte sich kaum.
Weniger Geschwindigkeit sorgte für weniger Emissionen - nicht nur bei NOx und NO2: Auch der Lärm wurde weniger, weil der Verkehr mehr rollt als rast. Und die Unfallzahlen sanken: Während bei Tempo 50 der Bremsweg knapp 30 Meter beträgt, braucht ein Pkw bei 30 km/h weniger als die Hälfte zum Anhalten.
"Für uns in Mainz bedeutet Tempo 30 einfach einen Mehrgewinn an Lebensqualität in der Innenstadt, weil es einfach leiser, sauberer und sicherer geworden ist", resümiert die Verkehrsdezernentin der Stadt Mainz, Janina Steinkrüger von den Grünen. Mainz scheint gesünder als vor zehn Jahren.
Letztlich sorgten deutsche Gerichte für Umschwung
Und das trifft auf 31 von den 33 zuvor kritisierten Städten zu. Nur noch München und Essen weisen Stickstoffbelastung über den Grenzwerten auf. Demensprechend stolz klingt auch Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages: "Die Städte unternehmen viel für saubere Luft. Die Erfolge sind klar zu erkennen: Seit nunmehr fünf Jahren werden die Feinstaubgrenzwerte überall eingehalten. Und die Belastung mit Stickoxid sinkt weiter."
Doch zu diesem Glück zwang die Stadtpolitiker nicht jener EU-Umweltkommissar, als er 2013 für dicke Luft zwischen EU und dem Autofahrerland sorgte. Denn der Luft-Druck aus Brüssel wirkt, bis er in deutschen Ballungsräumen ankommt, nur wie ein Lüftchen: Obwohl kurz nach dem Stickstoffalarm das Vertragsverletzungsverfahren begann, verurteilte der Europäische Gerichtshof Deutschland erst 2021. Statt europäische waren es deutsche Gerichte, die schneller für saubere Luft urteilten.
"Green-City-Masterplans M³" in nur fünf Monaten erarbeitet
"Die Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission sind langsam und schwerfällig", schildert Steffen Preuninger, Sprecher der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Dass Städte wie Mainz die Grenzwerte nicht mehr reißen, sei das Resultat der umfangreichen Klagen der Deutschen Umwelthilfe: "Hätten wir auf die Wirkung des Vertragsverletzungsverfahrens der EU gewartet, wäre die Luftqualität in Deutschland noch deutlich schlechter."
Auch die Mainzer Verkehrsdezernentin Janina Steinkrüger erklärt damit die Entdeckung der Tempo-30-Langsamkeit: "Hauptauslöser war damals tatsächlich die Klage der Deutschen Umwelthilfe, dass Mainz die Stickoxidwerte nicht eingehalten hat." Das Gerichtsverfahren machte ihrer Behörde Beine: Die Erarbeitung jenes "Green-City-Masterplans M³" erfolgte in nur fünf Monaten.
Neuer EU-Vorstoß könnte weitere Maßnahmen erfordern
Ob Mainz und die anderen Städte ihre Maßnahmen-Kreativität noch verstetigten können? Mit so etwas wie Tempo 20 statt Tempo 30 in der Innenstadt? Das wird vielleicht dringend nötig. Denn die EU-Kommission schlug im Herbst vor, den Grenzwert für die Belastung mit Stickstoffdioxid (NO2) künftig zu halbieren, also nur noch 20 statt 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft.
Mehr als die Hälfte aller deutschen Messstationen würde dieses Limit überschreiten - auch diejenigen in Mainz. Damit droht dann dieselbe Ausgangslage mitsamt Fahrverboten wie vor zehn Jahren. Zurück auf Los aus gutem Grund: Nach Angaben der EU-Kommission sterben jedes Jahr 300.000 Europäer frühzeitig. Sie atmeten schmutzige Luft.