Politologe zum SPD-Wahlkampf "Die Wähler wissen nicht, wofür die SPD steht"
Vor ihrem Wahlparteitag steckt die SPD im Stimmungstief. "Doch die Partei kann das Ruder noch herumreißen", meint Politologe Timo Grunden. Im Interview mit tagesschau.de analysiert er das Dilemma der Sozialdemokraten und erklärt, wie sie bei den Wählern punkten könnten.
tagesschau.de: Wofür steht die SPD im Wahljahr 2013?
Timo Grunden: Die SPD versucht vor allem als Partei der sozialen Gerechtigkeit aufzutreten, also ihre alte Kernkompetenz zu erneuern. Denn sie weiß genau, dass sie die letzten Wahlen auch verloren hat, weil ihr die Wähler genau das nicht mehr abgenommen haben. Gleichzeitig versucht sie, auch für die Mitte attraktiv zu sein. Aus diesem Grund wurde Peer Steinbrück nominiert: als Kandidat der Mitte. Aber bislang hat die SPD es nicht geschafft, ein klares Profil zu gewinnen. Die meisten Wähler wissen gar nicht so genau, wofür die SPD steht.
tagesschau.de: Beim Bundesparteitag in Augsburg soll das Wahlprogramm beschlossen werden. Warum tut sich die SPD so schwer damit, Wahlkampfthemen zu finden, die auch einschlagen?
Grunden: Vor allem, weil der Kanzlerkandidat bisher mit Schadensbegrenzung in eigener Sache beschäftigt war. Das hat von den Sachthemen abgelenkt. Seine unklugen Einlassungen zum Kanzlergehalt und seinen Wein-Vorlieben haben dazu geführt, dass er nicht als glaubwürdiger Repräsentant einer sozialen SPD anerkannt wird. Zum anderen haben wir es mit einer Kanzlerin zu tun, die alles daran setzt, der SPD die Wahlkampfthemen zu nehmen: Sie übernimmt einfach die populären Forderungen von SPD und Grünen. Das ist der Versuch, die innenpolitischen Fronten zu verringern, der SPD keine Angriffsflächen zu bieten, um dann auf das Thema zu lenken, mit dem die Union die Wahl gewinnen kann, nämlich die Euro-Krise.
"Die SPD hat viel Zeit verloren"
tagesschau.de: Es liegt also nicht am Programm, sondern am Kandidaten und an ungünstigen Umständen?
Grunden: Nicht ganz. Natürlich hat die SPD mit Peer Steinbrücks Ausrutschern viel Zeit verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass die Krise in Zypern und die nach wie vor schwelende Euro-Krise die öffentliche Debatte in letzter Zeit dominiert haben. Internationale Krisenzeiten sind immer Sternstunden der Exekutive: Merkel handelt, stellt Forderungen und enteilt dem Klein-Klein der Innenpolitik. Andererseits hat es die SPD noch nicht geschafft, ihre Themen zum Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu machen. Das ist das Hauptproblem der SPD-Kampagne, das muss sie bis zum Sommer lösen. Ihr Programm muss in das Bewusstsein der Wähler gelangen, ganz gleich, wie polarisierend ihre Forderungen sind. Wenn ihre Themen kontrovers diskutiert würden, dann hätte die SPD die Möglichkeit, Profil zu gewinnen und bestimmte Wählerschichten zu mobilisieren.
tagesschau.de: Mit welchem Thema könnte die SPD denn punkten?
Grunden: Arbeitsmarkt und Rente könnten immer noch zu Gewinnerthemen werden. Da wäre zum Beispiel der Mindestlohn. Die Kanzlerin versucht zwar, dieses Thema gar nicht erst zum Wahlkampfthema werden zu lassen, indem sie einen eigenen, allerdings sehr vagen Vorschlag dazu macht. Wenn der Mindestlohn aber zu einem großen Thema im Wahlkampf würde, dann hätte die SPD definitiv die besseren Karten. Im Zweifelsfall traut man ihr da mehr zu als der Union. Gleiches gilt für die Rente. Auch hier hat die Union einen eigenen Vorschlag, die "Lebensleistungsrente". Aber in einer echten Auseinandersetzung sähe die im Vergleich zu einer "Mindestrente", wie die SPD sie vertritt, doch recht schwach aus.
"Den Wahlkampf zu Hause gewinnen"
tagesschau.de: Gibt es es noch ein anderes Thema, das als Wahlkampfschlager taugen würde?
Grunden: Einen Wettkampf um das bessere Euro-Krisen-Management würde die SPD verlieren. Sie sollte stattdessen versuchen, den Wahlkampf bei den Wählern "zu Hause" zu gewinnen, in ihrer Lebens- und Arbeitswelt. Soziale Sicherheit, bezahlbare Mieten, gute Bildung oder eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung wären hier die Stichworte. Man darf die Bedeutung von Alltagsproblemen nicht unterschätzen - Eurokrise hin oder her. "All politics is local" lautet die Faustregel erfolgreicher Wahlkämpfer in den USA.
tagesschau.de: Bei ihrem Wahlprogramm hat die SPD erstmals auch interessierte Bürger und Mitglieder mitwirken lassen: Was wünschen sich denn die SPD-Anhänger von ihrer Partei?
Grunden: Für sie sind die Themen soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit das wichtigste. Das weiß man aus Mitglieder- und Wählerbefragungen. Man erhofft sich, dass die SPD wirtschaftliche Kompetenz und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. Das unterscheidet die SPD-Anhänger von denen der Linken, der man nicht zutraut, die sozialen Probleme mit wirtschaftlicher Kompetenz anzugehen. Die Vorschläge, die die Nichtmitglieder für das Wahlprogramm gemacht haben, hat die SPD zu elf Punkten verdichtet: Reichensteuer, sozialer Wohnungsbau und Bürgerversicherung beispielsweise. Überraschungen sind nicht darunter, diese Punkte hätten so auch vor vier oder acht Jahren in einem sozialdemokratischen Wahlprogramm stehen können.
"Der Kandidat stand sich bislang selber im Weg"
tagesschau.de: Ist Steinbrück einfach der falsche Mann für dieses Wahlprogramm, das auf soziale Gerechtigkeit setzt?
Grunden: Nein, das würde ich so nicht sagen. Man hat es bisher nicht verstanden, die Stärken von Steinbrück auszuspielen. Der Kandidat stand sich bislang selber im Weg. Wenn die SPD es aber schafft, deutlich zu machen, dass sie die Partei ist, die wirtschaftliche Kompetenz mit sozialer Gerechtigkeit verbindet, dann ist Steinbrück der richtige Kandidat. Aber er konzentriert sich momentan zu sehr auf das Thema Verteilungsgerechtigkeit, anstatt den Wählern der Mitte mal zu signalisieren, dass die SPD auch etwas für sie im Angebot hat.
Steinbrück wäre ein Kandidat, der sozialdemokratische Themen mit Werten und Erwartungen "bürgerlicher" Mittelschichtsmilieus verbinden könnte. Auch diese Wählerschichten wollen zum Beispiel "Recht und Ordnung" im Arbeitsmarkt. Auch die Mittelschichten müssen erleben, wie ihnen im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse, Zeit und Einkommen immer mehr Flexibilität abverlangt wird, ohne dass sie dafür einen Gegenwert erhalten. Es geht diesen Wählern also weniger um direkte Verteilungsfragen als um ein Minimum an sozialer Sicherheit und vor allem Planungssicherheit für das eigene Arbeits- und Familienleben.
"Die SPD führt einen Mehrfrontenkampf"
tagesschau.de: Von wem muss sich die SPD vor allem abgrenzen? Von der Union oder doch eher von Grünen und Linkspartei?
Grunden: Die SPD führt immer einen Mehrfrontenkampf, das ist ihr großes Problem. Sie hat zwei Konkurrenten auf der linken Seite, Linkspartei und Grüne. Und mit Union und FDP führt sie den Kampf um die Wechselwähler der Mitte. Sich vor allem auf eine Seite zu konzentrieren, wäre falsch, das muss sozusagen arbeitsteilig erfolgen.
tagesschau.de: Und wie kann man das schaffen?
Grunden: Steinbrück war zwar von Anfang an nicht der glaubwürdigste Vertreter für soziale Gerechtigkeit, da hätte man jemand anderen nominieren müssen. Aber man hat ihn nominiert, weil er auch ungebundene Wähler und Mittelschichten ansprechen kann - und die braucht man für einen Wahlsieg. Für das Thema soziale Gerechtigkeit müssten jetzt aber andere aus der Partei einstehen, die das besser und glaubwürdiger können. Hannelore Kraft beispielsweise als Ministerpräsidentin in NRW, die diesen Wertekomplex glaubwürdig vertritt und die auch dafür sorgen könnte, dass die SPD in NRW den dringend benötigten Vorsprung vor der Union erhält. Denn wenn die SPD NRW nicht deutlich gewinnt, gewinnt sie auch keine Bundestagswahl - gleiches gilt im Übrigen auch für Niedersachsen.
"Die Wahl ist noch nicht verloren"
tagesschau.de: Es bleiben noch gut fünf Monate bis zur Bundestagswahl: Kann die SPD, kann Steinbrück das Ruder noch herumreißen?
Grunden: Noch ist die Wahl für die SPD nicht verloren. Bei den Wahlen 2005 und 2009 hatten wir über 40 Prozent von so genannten Spätentscheidern unter den Wählern. Die entscheiden sich in den letzten vier bis sechs Wochen, wen sie wählen oder ob sie überhaupt zur Wahl gehen. Bei den Wahlkämpfen 2002 und 2005 hat die SPD in den letzten Wochen das Ruder nochmal herum gerissen. Auch wenn es 2005 dann doch nicht ganz gereicht hat.
Und dann kommt es auf eine entscheidende Frage an: Worüber glauben die Wähler zu entscheiden, wenn sie ihr Kreuz machen? Wenn sie glauben, über innen- und sozialpolitische Themen zu entscheiden, dann hat die SPD noch gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Wenn am Ende doch die Euro-Krise im Mittelpunkt steht, dann hat die Kanzlerin mit ihrer Partei die besseren Aussichten.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de