Die SPD vor der Scholz-Rede Fortschrittspartei oder Kanzlerwahlverein?
Auf dem SPD-Parteitag hat Kanzler Scholz heute seinen großen Auftritt. Die Delegierten hoffen - nach zuletzt desaströsen Umfragen, Haushaltskrisen und Ampelkrach - auf eine selbstbewusst-sozialdemokratische Inspiration vom Kanzler.
Kanzlerwahlverein? SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert schmeckt dem Schimpfwort für ein paar Sekunden grübelnd nach. Ja, da war mal was. Die Schröder- und Agendajahre. Aber dass diese SPD in den letzten zwei Jahren zum stillen Kanzlerwahlverein verkommen wäre? Kühnert winkt gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio energisch ab: "Bei allen strittigen Auseinandersetzungen, die wir haben, den Vorwurf hab ich noch nicht gehört", sagt Kühnert. Und das werde man nach diesem Parteitag erst recht nicht behaupten können.
Zu Beginn des Parteitags jedenfalls behauptet auch niemand mehr, dass diese SPD eine Kanzlerjubelpartei wäre. Als Olaf Scholz gestern Morgen kurz vor Parteitagsbeginn den Saal betritt, bleibt es still. Kein Sozialdemokrat erhebt sich, niemand klatscht.
Auf den Tag genau vor zwei Jahren wurde dieser Olaf Scholz als vierter sozialdemokratischer Kanzler vereidigt. Man hätte sich ein kleines bisschen freuen können. Aber an diesem Morgen schleicht Scholz beinahe in die erste Reihe. Eine Mitarbeiterin trägt ihm seine alte Ledertasche nach. Könnte man nicht auf dem Bildschirm sehen, dass der SPD-Kanzler da ist - hören würde es niemand.
Stille Ankunft: Scholz am Freitag bei den Delegierten in Berlin
Von Enthusiasmus keine Spur
Der Empfang: bestenfalls höflich. Erst als Malu Dreyer, die Sitzungspräsidentin, in ihrer Begrüßung aufzählt, was diese SPD seit 2019 so alles auf die Beine gestellt hat, fällt ihr irgendwann auch Scholz in der ersten Reihe ein: "Wir stellen den vierten sozialdemokratischen Bundeskanzler. Lieber Olaf!", sagt sie. Der "liebe Olaf" lächelte, aber die Genossen applaudierten nicht frenetisch wie ein Kanzlerwahlverein.
Scholz saß fortan in der ersten Reihe, lauschte einem furiosen Lars Klingbeil, der in seiner Bewerbungsrede zur Wiederwahl als Parteichef den SPD-Puls hochtrieb, den Kanzler Scholz bei Ampelkanzler-Reden selbst eher selten hat. Nach der Klingbeil-Rede standen sie und klatschten sich den Frust aus der Parteiseele.
Scholz muss "rote Farbe" bekennen
Und heute? Heute muss der liebe Olaf liefern. Hoffen sie jedenfalls. 10 Uhr, Rede des Bundeskanzlers. Den Regierungserklärungs-sowohl-als-auch-Ampelkanzler Scholz will jedenfalls niemand hören heute: "Er muss jetzt mal ans Herz der Sozialdemokraten ran", sagt der sehr linke Sozialdemokrat Erik von Malottki. "Olaf muss Farbe bekennen. Und zwar rote Farbe", so der stellvertretende Bundesvorsitzende des Forums Demokratische Linke (DL21) in der SPD.
Der Sozialdemokrat Axel Schäfer erlebt gerade seinen 50. SPD-Parteitag. Der Mann ist seit 1969 in der SPD und mag es als Bochumer aus dem Pott gern direkt. Scholz ist öffentlich zumeist das Gegenteil davon. "Sie sehen mich hier als Menschen nicht ohne Zuversicht", sind solche Scholz-Sätze, die manche Genossen wahnsinnig machen.
Selten Puls, selten links
Axel Schäfer aber kennt auch einen anderen Scholz. Den emotionalen Erklärer, der hinter verschlossenen Fraktionstüren auch komplizierteste Sachverhalte ganz verständlich rüberbringe. Dem ARD-Hauptstadtstudio sagt Schäfer: Diesen Scholz, den wolle er heute gern öffentlich sehen. Der Olaf solle so reden wie in der Fraktion. "Am besten mit wenig Manuskript. Aber dafür mit viel Herz."
Scholz und viel Herz? Viel verlangt von einem Hanseaten, der selten Puls und noch seltener sehr links daherkommt.
Dabei ist der Parteitag hier am Freitag nach sehr links geschwenkt. Hat eine Reform der starren Schuldenbremse gefordert, will an den Mindestlohn. Hat der eher linken Co-Vorsitzenden Saskia Esken trotz schwacher Bewerbungsrede ihr bisher bestes Wahlergebnis beschert. Der Parteitag hat den Ex-Juso Kühnert mit über 92 Prozent als Generalsekretär nicht nur bestätigt, sondern geradezu gefeiert. Und hat mit Hubertus Heil den Mann, der als Arbeits- und Sozialminister als das soziale Gewissen der SPD gilt, mit über 96 Prozent nachgerade heiliggesprochen.
Die SPD hat auf ihrem Parteitag ihre Führung gewählt. Neben den beiden Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil votierten die Delegierten erneut für Kevin Kühnert als Generalsekretär der Partei. Der 34-Jährige erhielt 92,55 Prozent der Stimmen und damit das drittbeste Ergebnis bei der Wahl eines SPD-Generalsekretärs, seitdem das Amt 1999 eingeführt wurde. Besser schnitten nur Franz Müntefering 1999 und Katarina Barley 2015 ab.
In der Stellvertreterriege gibt es ein neues Gesicht: Der Finanzpolitiker Achim Post aus Nordrhein-Westfalen ersetzt Thomas Kutschaty, der als Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr krachend gescheitert war. Post erhielt 78,2 Prozent der Stimmen.
Das beste Ergebnis bei der Stellvertreterwahl erzielte Arbeitsminister Hubertus Heil mit 96,6 Prozent der Stimmen. Die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger wurde mit 95,5 Prozent der Stimmen bestätigt, die schleswig-holsteinische Landesvorsitzende Serpil Midyatli mit 79,3 Prozent und Bauministerin Klara Geywitz mit 74,6 Prozent.
Mitreißend? Wohl kaum
Martin Schulz war wie einst Sigmar Gabriel und jetzt Lars Klingbeil ein SPD-Chef, der einen Saal zum Toben bringen konnte. Dass der Kanzler das heute auf dem SPD-Parteitag schafft, sieht dieser Martin Schulz, der einst selbst gern Kanzler geworden wäre, nicht. "Muss er aber auch nicht", sagt Schulz dem ARD-Hauptstadtstudio. Scholz habe eine andere Rolle. "Er wird erklären müssen, warum die Dinge in seiner Regierung so sind, wie sie sind", so der jetzige Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung. Um nachzuschieben, dass Scholz schon auch ein paar "nachhaltig wirkende" Aussagen machen werde.
Nachhaltig wirkend waren Scholz-Reden zuletzt selten. Seine Rede heute sollte besser sein. Der Kanzler jedenfalls habe um viel Redezeit gebeten, sagt Generalsekretär Kühnert. "Insofern wird Olaf Scholz sich da heute nicht hinquälen, sondern freut sich darüber, sich in dieser Art erklären zu können." So mancher Genosse hofft vermutlich inständig, dass dem Kanzler seine Freude ausnahmsweise auch mal anzuhören sein wird.