Vor zehn Jahren Als das Aus für die Wehrpflicht kam
Vor zehn Jahren war das Aus besiegelt: Deutschland setzte die Wehrpflicht aus. Nicht nur Konservative bedauern das bis heute. Doch damit sind sie in der Minderheit.
Sie bekamen einen Brief von der Bundesrepublik Deutschland mit der Aufforderung, sich in einer Kaserne einzufinden. Dann gab es ein Paar Stiefel - "Knobelbecher" genannt -, einen Helm, ein G36-Gewehr und einen Dienstplan in die Hand gedrückt. Auf diesem standen Dinge wie "Bewegungsarten im Gelände", "Tarnen und Täuschen" oder "Formaldienst". Und dann begann für Monate ein Leben in Befehl und Gehorsam.
Zehntausenden jungen Männern ging das Jahr für Jahr so - bis zum Jahr 2010.
Merkel, Westerwelle, zu Guttenberg
In Berlin regierte damals eine schwarz-gelbe Koalition von Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Guido Westerwelle. Der Verteidigungsminister hieß: Karl-Theodor zu Guttenberg.
Kurz bevor der CSU-Politiker über eine Plagiatsaffäre stolperte, stellte er die Empfehlungen seiner Strukturkommission Bundeswehr vor. Und legte damit die Axt an eine der Grundsäulen damaliger deutscher Sicherheitspolitik: die seit 1956 bestehende Wehrpflicht.
Konservative nennen sie immer noch "Schule der Nation"
Nach dem Krieg nur gegen heftige Proteste durchgesetzt, sorgte die Wehrpflicht dafür, dass Jahr für Jahr Tausende junger Männer durch Kreiswehrersatzämter gemustert, eingestuft und zu einem mehrmonatigem Dienst an der Waffe verpflichtet wurden. Knapp 46.000 Grundwehrdienstleistende und Freiwillige gab es kurz vor der Aussetzung des Dienstes. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Wehrpflicht gerade noch ein halbes Jahr, Mitte der 1970er-Jahre war es noch dreimal so lang.
"Schule der Nation" nennen viele Konservative bis heute diesen Pflichtdienst. Neben dem Ausstieg aus der Atomkraft und der Flüchtlingspolitik gehört die Aussetzung der Wehrpflicht ihrer Meinung nach zu den größten Fehlern Merkels. Heute vor zehn Jahren fiel der Kabinettsbeschluss. Die Wehrpflicht nach Artikel 12a Absatz 1 Grundgesetz wird ausgesetzt, ab Januar 2011 wird kein deutscher Mann mehr einberufen.
Knackpunkt Wehrgerechtigkeit
Dass die Politik damit einem drohenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuvor kam, haben die meisten vergessen: Die Wehrgerechtigkeit war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben. Es grenzte an Willkür, wer damals einrücken musste.
Heute wird die Wehrpflicht nicht nur von Konservativen als Allheilmittel gegen viele Defizite gesehen, die in der heutigen Bundeswehr zu beobachten sind. So könnte man problemlos die mehr als 20.000 unbesetzten Stellen ausgleichen, die das Verteidigungsministerium bei der jetzigen Berufsarmee nicht aufgestockt bekommt.
Und: Man hätte ein anderes Rekrutierungspotenzial auch für Offiziere und Generäle. Viele der jetzigen hochrangigen Soldaten haben sich erst über den Grunddienst in Heer, Luftwaffe oder Marine überhaupt zu einer militärischen Karriere entschlossen. Das sind vor allem die Argumente der AfD, die die Grundwehrpflicht als "Ehrendienst" bezeichnet und gern Anträge zu seiner Wiedereinführung stellt.
Mit Wehrpflicht gegen rechtsextreme Tendenzen?
Aber auch die Wehrbeauftragte Eva Högl von der SPD nannte noch im Juli die Aussetzung einen "Riesenfehler" und forderte eine Revision der Entscheidung von 2010. Ihre Hoffnung ist eine ganz andere: Wenn ständig neue Rekruten zur Bundeswehr kämen, könnte dies womöglich auch die Bildung von rechtsextremen Gruppierungen verhindern, mit der die Bundeswehr immer wieder in die Negativschlagzeilen gerät.
Grünen-Abgeordnete wie Agnieszka Brugger weisen in dem Zusammenhang jedoch gern darauf hin, dass es den rechtsextremen Sumpf etwa im "Kommando Spezialkräfte" (KSK) schon lange vor Aussetzung der Wehrpflicht gab und man eine bessere Auswahl bei der Einstellung neuer Soldaten brauche, statt über ein altes Modell nachzudenken.
Aber auch sonst sind die Bedenken groß: Zehn Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht hätte man nicht genug Kreiswehrersatzämter, Kasernen und Ausbilder, obwohl man das möglicherweise noch korrigieren könnte - wenn auch nur mit viel Geld.
Rekruten in der High-Tech-Armee?
Sogar Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer aber weist regelmäßig darauf hin, dass die heutige Bundeswehr eine professionelle Spezialistenarmee mit High-Tech-Waffen sei. Wehrpflichtige würden die Bündnisfähigkeit Deutschlands daher nicht erhöhen, sondern eher schwächen. Man könne sich keinen "Volkssturm mit Interkontinentalraketen" und die Abwehr von "Cyberangriffen mit Wehrpflichtigen" leisten, warnt auch der FDP-Abgeordnete Marcus Faber.
Inzwischen eine professionelle Spezialistenarmee - wie hier das von der Bundeswehr angeführte NATO-Bataillon auf dem Militärstützpunkt in Rukla.
Vielleicht ist es einfach so, dass über die Idee der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland einfach die Zeit hinweggegangen ist. Sicherheitspolitisch gehören Auslandseinsätze und Anti-Terror-Kampf mittlerweile beinahe selbstverständlich zur Aufgabe der Bundeswehr, gesellschaftspolitisch gehören Frauen in Uniformen zum Selbstbild der Armee.
Eine Dienstpflicht nur für Männer, die bei den meisten Aufgaben der Bundeswehr gar nicht gebraucht würden, scheint da nicht nur der Linkspartei anachronistisch, die die Wehrpflicht nicht nur aussetzen, sondern komplett streichen will.
Hippe Werbekampagnen
Und so wird sich das Verteidigungsministerium auf absehbare Zeit mühen müssen, künftige Berufssoldatinnen und -soldaten weiter etwa mit hippen Werbekampagnen im Internet anzusprechen und in Karrierecentern anzuwerben statt wie früher mit Tausenden Formbriefen ganze Jahrgänge einzubestellen.
Zum 1. April 2021 soll es nach der Idee der Ministerin immerhin einen "Freiwilligen Wehrdienst im Heimatschutz" geben, um die Bundeswehr wieder besser im Regionalen zu verankern, wie sie sagt. Wer sich dafür meldet, bekommt eine dreimonatige Grund- und eine viermonatige Spezialausbildung - und vielleicht ja auch eine vage Ahnung davon, wie es bis 2010 war, als jährlich Zehntausende Schulabgänger in Deutschlands Kasernen zum Dienst antreten mussten.