160 Jahre SPD Vorwärts, Genossen - aber wohin?
Die SPD hat in ihren 160 Jahren viele Höhen und Tiefen erlebt. Nach dem Wahlsieg 2021 träumten manche Genossen schon vom "sozialdemokratischen Jahrzehnt". Wo ist die Euphorie hin?
Es war im Dezember 2021. Olaf Scholz war gerade zum Bundeskanzler gewählt worden, nach dem für viele unerwarteten Wahlsieg der SPD und der Bildung der Ampel-Regierung. Auf einem Parteitag in Berlin schaute SPD-Chef Lars Klingbeil nach vorne: "Liebe Genossinnen und Genossen, ich bin fest davon überzeugt: Dieser Sieg bei der Bundestagswahl war eine große Chance, jetzt ein sozialdemokratisches Jahrzehnt zu gestalten. Und es liegt jetzt an uns."
Inzwischen, anderthalb Jahre später, scheint das sozialdemokratische Jahrzehnt etwas steckengeblieben zu sein. Die SPD liegt in den Umfragen aktuell bei 17 bis 20 Prozent, die Landtagswahlergebnisse waren zuletzt ziemlich durchwachsen. Im Saarland und in Bremen gewonnen, in Niedersachsen trotz Verlusten weiter an der Regierung, in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein hat die SPD deutlich verloren.
Alles in allem scheint die Partei weit entfernt vom "sozialdemokratischen Jahrzehnt" zwischen 1969 und 1982. Den Begriff hatte der Historiker Bernd Faulenbach der Ära Brandt/Schmidt zugeschrieben.
Relativ großes Potenzial
Jana Faus, 45 Jahre, berät mit ihrer Agentur Pollytix regelmäßig die Sozialdemokraten. Sie verweist auf Analysen, die zeigen würden, dass die SPD ein relativ großes Potenzial hat. "Viele Wählerinnen und Wähler sagen, ich kann mir theoretisch vorstellen, diese Partei zu wählen, tun es aber am Ende nicht." Die SPD könne ihr theoretisches Potenzial also häufig nicht ausschöpfen. So auch jetzt. "Da ist eine Riesenlücke zwischen den gegenwärtigen Umfragen und einem sozialdemokratischen Jahrzehnt", sagt die Politikberaterin.
Wolfgang Thierse, 79, war in der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder für die SPD Bundestagspräsident, er ist Ehrenmitglied in der SPD-Grundwertekommission. Thierse hält den Begriff vom sozialdemokratischen Jahrzehnt für einen Anspruch, aber keine verlässliche Prognose.
Gleichwohl seien die Voraussetzungen für sozialdemokratische Antworten und Konzepte derzeit keine schlechten: "Die Zeit des Neoliberalismus, alles dem Markt zu überlassen und den Staat zurückzudrängen, die sind vorbei", so Thierse. Die vielfältigen Krisen wie die Finanzkrise und die Corona-Pandemie hätten die Staatsbedürftigkeit der Wirtschaft und der Bürger gezeigt. "Dass staatliches Handeln stärker denn je gefordert ist, das wissen die Sozialdemokraten. Aber es verlangen auch die meisten Bürger."
Markenkern sozialer Ausgleich
Thierse sieht die SPD durchaus noch als Volkspartei, der es nicht darum gehen könne, einzelne Klientelinteressen zu bedienen. Das unterscheide die SPD von den kleineren Koalitionspartnern FDP und Grüne: "Die SPD muss die notwendigen ökologischen Reformen und die notwendigen Reformen technologischer Art so voranbringen, dass ganz viele Menschen mitgenommen werden. Dass sie nicht nur die Schmerzen dabei erfahren, sondern auch die Vorteile und Gewinne."
Auch Politikberaterin Faus glaubt, dass der Markenkern der SPD der soziale Ausgleich sein muss. Alle wüssten, dass die Transformation der Wirtschaft Kosten mit sich bringen würden. Diese Kosten fair zu verteilen, sei Aufgabe der SPD. Dann seien die Menschen auch bereit, ihren Teil beizutragen.
Wie schwer es ist, diesem Anspruch gerecht zu werden, zeigen die aktuellen Diskussionen um das Gebäudeenergiegesetz. Auf der einen Seite steht das Ziel, dass in Deutschland absehbar weitgehend klimaneutral geheizt wird. Auf der anderen Seite hat sich schon jetzt bei vielen Menschen der Eindruck festgesetzt, dass sie mit den Heizvorgaben zukünftig finanziell überfordert werden.
Dilemma in der Ampelkoalition
Politikberaterin Faus vermisst bei der Frage derzeit die klare sozialdemokratische Handschrift. Anders als bei der Krisenbewältigung der vergangenen Jahre: "Die gelang der SPD sehr gut, als die Menschen in der Coronakrise auf Kurzarbeitergeld angewiesen waren. Auch die Entlastungspakete hatten eine SPD-Handschrift - und das wurde goutiert."
Beim Thema Energiewende hat die SPD aus Faus' Sicht allerdings noch nicht alle Fragen für sich geklärt. "Und sie ist natürlich auch in einer Koalition, die es nicht einfach macht, rein sozialdemokratisch durchzuregieren."
Faus sieht die SPD in der Dreierkoalition mit Grünen und FDP in einem Dilemma: Auf der einen Seite müsse die SPD in der Koalition sichtbar sein und sozialdemokratische Antworten geben. Gleichzeitig brauche es jemanden, der die Koalition zusammenhalte und keinen Streit verursache. "Dieses Dilemma ist kaum lösbar."
Scholz kein "emotionaler Catcher"
Bundeskanzler Scholz ist nach Faus' Einschätzung für viele Bürger zu wenig sichtbar. Er sei kein "emotionaler Catcher", sagt sie. Viele Wähler wollten zwar einen Kanzler, der überlegt sei und in aller Ruhe Entscheidungen durchdenke und Dinge dann mit wenig Aufhebens mache. "Gleichzeitig braucht es jemanden, der die Bevölkerung im Moment auch mit ihren Sorgen anspricht und eine Verbindung herstellt. Das ist nicht unbedingt die Stärke von Olaf Scholz."
SPD-Ehrenmitglied Thierse verweist darauf, dass angesichts der vielfältigen Krisen und in den jetzigen Veränderungszeiten fast alle Regierungen in Europa Probleme hätten, populär zu sein. "Die amtierenden Regierungen haben nirgendwo große Zustimmungswerte. Ob in Schweden oder Finnland, ob in Großbritannien oder Frankreich."
Weder Thierse noch Faus wagen eine Prognose, ob die 2020er-Jahre ein sozialdemokratisches Jahrzehnt werden. Zum 160. Geburtstag der Partei sieht die Politikberaterin die Gefahr, dass sich die SPD in der Koalition zwischen den streitenden Partnern aufreiben könnte. Der SPD-Altvordere warnt davor, den Anspruch als Volkspartei aufzugeben: Gemeinsame Interessen zu formulieren, ist zwar schwieriger geworden. Aber das bleibt die Aufgabe der Sozialdemokratie."