Flüchtlinge gehen durch die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen, Standort Grenzdurchgangslager Friedland (Niedersachsen).

Von Taliban bedroht "In Afghanistan werde ich getötet"

Stand: 28.11.2024 09:29 Uhr

Besonders gefährdete Afghanen können über das Bundesaufnahmeprogramm nach Deutschland kommen. Bisher sind so 860 Menschen eingereist. Andere warten darauf seit Monaten - unter schwierigen Bedingungen.

Von Michael Brandt, NDR

Mehr als drei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan warten nach Angaben des Bundesinnenministeriums noch etwa 3.600 gefährdete Afghanen in Pakistan auf ihre Ausreise nach Deutschland.

Die Verfahren beschreiben Betroffene als langwierig. Dabei könnten sie gar nicht nach Afghanistan zurück. "In Afghanistan werde ich getötet", sagt ein junger Afghane, der nach Deutschland ausgeflogen wurde.

Ehemalige Strafverfolgerin ist verängstigt

"Meine Schwester ist sehr verängstigt. Wenn sie nach Afghanistan deportiert wird, sind ihr Reisepass und ihre Dokumente in der deutschen Botschaft in Pakistan. Sie würde alles verlieren", sagt Ahmad.

Seine Schwester sei fast mittellos nach Pakistan gekommen. Um Ahmads Angehörige zu schützen, wird der volle Name des ehemaligen Bundeswehr-Übersetzers nicht veröffentlicht.

Der 32-jährige Afghane hat es schon vor mehr als drei Jahren nach Deutschland geschafft und lebt inzwischen in Niedersachsen. Aber seine Schwester harre seit neun Monaten in Pakistan aus und warte auf ihre Ausreise im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms. Bevor die Taliban an die Macht kamen, hatte sie als Strafverfolgerin beim afghanischen Militär gearbeitet.

Bisher nur wenige Einreisen über Bundesaufnahmeprogramm

Mit dem Bundesaufnahmeprogramm können Afghanen eine Aufnahme in Deutschland beantragen, die individuell gefährdet sind und beispielsweise als Journalisten, in der Justiz oder für Frauenrechts- und Menschenrechtsorganisationen gearbeitet haben.

Bisher sind 860 Menschen auf diesem Weg nach Angaben des Auswärtigen Amtes nach Deutschland eingereist. Das Programm war Mitte Oktober 2022 mit dem Ziel gestartet, monatlich bis zu 1.000 gefährdete Afghanen aufzunehmen.

Betroffene: Situation in Pakistan werde gefährlicher

Ein direktes Interview mit seiner Schwester sei in diesen Tagen zu gefährlich, berichtet der ehemalige Bundeswehr-Übersetzer. Seit einigen Tagen gibt es Unruhen in Pakistan. In einer E-Mail würden die zuständigen deutschen Stellen davon abraten, auf die Straße zu gehen. Man solle die Türen verschlossen halten.

Ahmad teilt die Befürchtung seiner Schwester, dass die pakistanischen Behörden sie verhaften und abschieben könnten. Außerdem hofft er, dass seine Schwester im Bundesaufnahmeprogramm nicht doch noch abgelehnt wird. In Afghanistan drohe ihr etwas Schlimmes, sagt der 32-Jährige. Er möge sich das kaum vorstellen, weil er an die Frauen denken müsse, die in afghanischen Gefängnissen von den Taliban gefoltert, vergewaltigt oder zwangsverheiratet würden.

U-Ausschuss im Bundestag befasst sich mit Ortskräften

Insgesamt konnten nach dem Fall von Kabul Mitte August 2021 nach Angaben des Auswärtigen Amts über 35.000 Personen über verschiedene Aufnahmeprogramme nach Deutschland einreisen. Darunter waren Tausende Ortskräfte, also Afghanen, die für die Bundeswehr oder andere deutsche Organisationen gearbeitet haben.

Die Evakuierung ist Thema im Afghanistan-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag. Am Donnerstag wird unter anderem der ehemalige Bundesaußenminister Heiko Maas dort befragt. Das Außenministerium unter seiner Führung wollte die afghanischen Ortskräfte lange nicht in Sicherheit bringen lassen.

Ex-Soldat Sascha Richter vom Verein Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte erhofft sich, dass aufgrund der Erkenntnisse des U-Ausschusses Maßnahmen entwickelt werden, um bei künftigen Einsätzen Ortskräfte schneller und verlässlicher in Sicherheit bringen zu können. Deutschland sei seiner Verantwortung für die afghanischen Mitarbeiter nicht nachgekommen. Einige gefährdete Gruppen wie volljährige Töchter der Ortskräfte würden nach wie vor nicht in die Aufnahmeverfahren kommen.

Ehemalige Soldaten fordern weniger Bürokratie

Für die gefährdeten Afghanen, die sich noch in Pakistan oder Afghanistan befinden, müsse die Bürokratie in den Verfahren abgebaut werden, fordert Richter. Der ehemalige Bundeswehrsoldat war für Ortskräfte in Afghanistan und in Mali verantwortlich und setzt sich seit Jahren für sie mit seinen Kollegen im Verein Patenschaftsnetzwerk ein.

Es werde immer schwieriger, ein Visum zu bekommen, weil immer mehr Hürden wie Befragungen hinzugekommen seien, während die Lage für Ortskräfte und weitere gefährdete Afghanen in Pakistan und Afghanistan immer dramatischer werde.

Das Bundesinnenministerium teilt mit, dass es bereits versucht habe, die Prozesse zu beschleunigen - auch mit mehr Personal. Aber die Sicherheit habe bei den Verfahren letztlich die höchste Priorität, und "die komplexen Rahmenbedingungen vor Ort" würden den Beschleunigungen Grenzen setzen.

Betroffenen fehlen Informationen

Im November sind einige Hundert gefährdete Afghanen mit Charterflügen nach Deutschland eingereist. Zuletzt sind knapp 200 in Erfurt gelandet und in der niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtung Friedland bei Göttingen für etwa zwei Wochen aufgenommen worden. Inzwischen wurden den Menschen bundesweit Unterkünfte zugewiesen.

Ob auch seine Schwester bald nach Deutschland kommen kann, weiß der ehemalige Bundeswehr-Übersetzer Ahmad nicht. Sie hätte keine weiteren Informationen zum Stand ihres Verfahrens erhalten. Bis zum Jahresende hat das Auswärtige Amt weitere Charterflüge geplant.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. Juni 2024 um 08:40 Uhr.