Todesfahrt in Magdeburg Der Weihnachtsmarkt-Anschlag und seine Folgen
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt laufen die Ermittlungen. Der festgenommene Taleb A. sitzt in U-Haft, die Frage nach seinem Motiv bleibt offen. Was ist bisher bekannt? Welche politischen Konsequenzen gibt es? Ein Überblick.
Was ist vorgefallen?
Am Freitagabend ist ein Autofahrer in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Alten Markt in der Magdeburger Innenstadt gerast. Fünf Menschen starben. Mehr als 200 Menschen wurden verletzt, 41 von ihnen schwer oder sehr schwer.
Bei den Todesopfern handelt es sich um vier Frauen und ein neunjähriges Kind. Ein Mann wurde nach der Tat festgenommen. Es handelt sich um Taleb A., einen 50-jährigen Arzt, der in Saudi-Arabien geboren wurde. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl vor. Laut Angaben der Stadt waren rund um den Anschlag etwa 530 Einsatz- und Hilfskräfte im Einsatz.
Wie genau lief die Tat ab?
Der Direktor der Polizeidirektion Magdeburg, Tom-Oliver Langhans, sprach von einem "Zeitfenster von rund drei Minuten". Um kurz nach 19 Uhr fuhr der Täter laut Polizeiangaben zunächst langsam in einen Flucht- und Rettungsweg. Zur gleichen Zeit ging im Lagezentrum der Polizei der erste Notruf ein.
Der Täter erhöhte das Tempo und fuhr laut Polizeiangaben "mindestens 400 Meter über den Weihnachtsmarkt". Letztlich stand er wieder an der Kreuzung, wo der Anschlag begann. Dort wurde der Mann von Beamten aufgegriffen.
Wer ist der Festgenommene?
Es handelt sich um Taleb A., einen 50-jährigen Mann. Die Polizei geht von ihm als Einzeltäter aus. Er stammt aus Saudi-Arabien und kam 2006 nach Deutschland. Im Februar 2016 stellte er nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa einen Asylantrag, über den im Juli desselben Jahres entschieden wurde. Der saudische Staatsbürger erhielt Asyl als politisch Verfolgter.
A. lebte zuletzt in Bernburg im Salzlandkreis und arbeitete als Facharzt für Psychiatrie in Sachsen-Anhalt. Wie eine Sprecherin des Gesundheitsunternehmens Salus mitteilte, war er im Maßregelvollzug tätig. Er habe mit suchtkranken Straftätern gearbeitet und sei seit März 2020 in der Einrichtung tätig gewesen. "Seit Ende Oktober 2024 war er urlaubs- und krankheitsbedingt nicht mehr im Dienst", hieß es in einer Mitteilung des Unternehmens.
In der Belegschaft gab es offenbar Zweifel an seinen Kompetenzen. Die Mitteldeutsche Zeitung zitiert einen Mitarbeiter: "Er heißt bei uns 'Dr. Google'." Vor jeder gestellten Diagnose habe er im Internet nachschauen müssen. Es habe auch Hinweise an die Klinikleitung gegeben.
Eine Ausnahme machen wir dann, wenn die Täterschaft gut belegt ist. So ist es auch im Fall des Anschlags von Magdeburg. Hier ereignete sich die Tat in der Öffentlichkeit. Taleb A. wurde festgenommen, nachdem er aus dem Tatfahrzeug ausgestiegen war. Deshalb sprechen wir künftig von Taleb A. als Täter und Todesfahrer und verzichten auf den Zusatz "mutmaßlich".
Auch der Pressekodex sieht dieses Vorgehen vor. In Richtlinie 13.1 heißt es dazu: "Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn (...) er die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. In der Sprache der Berichterstattung ist die Presse nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden, die für den Leser unerheblich sind."
Welche Informationen über sein Motiv liegen vor?
Nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung war der Mann mehreren Behörden bekannt. Im Netz war er offenbar immer wieder mit Gewaltandrohungen aufgefallen. Den Ermittlern gegenüber soll A. von "Unzufriedenheit mit dem Umgang mit saudi-arabischen Flüchtlingen in Deutschland" gesprochen haben.
Neben seiner Tätigkeit als Arzt war Taleb A. als Aktivist und vehementer Islamkritiker unterwegs - vor allem in den sozialen Netzwerken, wo ihm schon vor dem Anschlag mehr als 40.000 Menschen folgen. Im Juni 2019 erschien ein Interview mit Taleb A. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte", sagte er damals.
Nachdem A. vor Jahren mit seiner Unterstützung für saudische Frauen, die aus ihrem Heimatland fliehen, an die Öffentlichkeit gegangen war, schrieb er später auf seiner Website in englischer und arabischer Sprache: "Mein Rat: Bittet nicht um Asyl in Deutschland." Eine islamistische Motivation für die Tat sei deshalb nicht naheliegend, meinte ARD-Terrorexperte Holger Schmidt.
Auf dem Onlinedienst X bekundete Taleb A. seine Sympathie zur AfD und träumte von einem gemeinsamen Projekt mit der in weiten Teilen rechtsextremen Partei: einer Akademie für Ex-Muslime.
Was ist aus der Vergangenheit über A. bekannt?
Taleb A. fiel bereits vor mehr als zehn Jahren den Behörden auf. Damals lebte er in Stralsund und war im Streit mit der Ärztekammer. In diesem Zusammenhang sprach er schwere Drohungen aus. Dabei verwies er auf den Terroranschlag auf den Boston-Marathon. Wegen seiner Äußerungen gegenüber der Ärztekammer verurteilte ihn das Amtsgericht Rostock 2013 zu 90 Tagessätzen zu je zehn Euro. Später bezeichnete er die Richter in einer Petitionshotline der Bundesbehörden außerdem als Rassisten. Laut dem Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern hat er dabei angedroht, sich eine Pistole zu besorgen und im Zweifel Rache an den Richtern zu nehmen.
Als er trotz langer Proteste keinen Fortschritt machte, drohte er damit, sich das Leben zu nehmen. Als Gefährder wurde der Mann aber nicht eingestuft. Und: Bei seinem Asylverfahren 2016 führte die Verurteilung nicht zu einer Ablehnung des Antrags. Warum, das ist noch unklar.
War eine Radikalisierung des Mannes abzusehen?
Nach Informationen von WDR, NDR und SZ gab es aus Saudi-Arabien Warnungen vor A. an die deutschen Behörden. Langhans, der Direktor der Polizei Magdeburg, sagte am Samstag, er habe keine Kenntnis von einer solchen Warnung, man sei aber in enger Absprache mit den Sicherheitsbehörden, um das zu klären.
Wie MDR-Recherchen zeigen, übermittelte die Magdeburger Polizei Taleb A. noch im vergangenen Jahr eine schriftliche Gefährderansprache. Zuvor hatte die Polizei eingeräumt, dass eine geplante Gefährderansprache nicht durchgeführt werden konnte, da man Taleb A. nicht angetroffen habe. Langhans sagte am Samstag, dass die Gefährderansprache nach seinem Kenntnisstand nicht erfolgt sei. Ob es erst zum Versuch einer persönlichen Gefährderansprache kam und danach das Schreiben versendet wurde, ist derzeit unklar.
Die schriftliche Gefährderansprache liegt dem MDR vor.
Eine Gefährderansprache können Polizeibehörden vornehmen, wenn Menschen noch nicht straffällig geworden sind. Dafür müssen konkrete Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnte. Langhans bestätigte, dass die örtliche Polizei bereits früher eine Strafanzeige gegen A. erhalten habe. Er wollte sich aber nicht dazu äußern, welche Vorwürfe damals im Raum standen.
Gab es Probleme mit dem Sicherheitskonzept des Weihnachtsmarkts?
Der Attentäter konnte offenkundig ohne Hindernis das Gelände des Weihnachtsmarkts mit seinem Auto erreichen. Die üblich gewordenen Poller fehlten an der von ihm gewählten Zufahrt. Die Stadt Magdeburg begründete dies damit, dass der Weg als Rettungsgasse für Krankenwagen und Feuerwehren bei Notfällen vorgesehen war.
Der für öffentliche Ordnung zuständige Beigeordnete Ronni Krug sagte, vor Ort habe sich ein Polizeiwagen befunden, der üblicherweise solche Wege versperrt. Warum das zur Zeit des Anschlags nicht der Fall war, ist unklar.
Ein hundertprozentiger Schutz sei gar nicht möglich, sagte Jochen Kopelke, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), bei tagesschau24. Die Menschen wollten "nicht in eingezäunte, mit Einlasskontrollen und Durchsuchungen stattfindende geschlossene Veranstaltungen", sondern Weihnachtsmärkte zwischen ihren Einkäufen besuchen.
Wie reagiert die Politik?
Politikerinnen und Politiker sprachen ihr Beileid aus, auch international. Mehrere ausländische Regierungen, die EU, die Vereinten Nationen sowie die NATO bekundeten ihre Solidarität. Am Samstag besuchten - neben anderen - Kanzler Olaf Scholz (SPD), Justizminister Volker Wissing (parteilos) und der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, die Stadt Magdeburg.
Laut Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) kam die Landesregierung zu einer Kabinettssitzung zusammen, Scholz habe ebenfalls teilgenommen. Es sei darum gegangen, wie die Opfer und Angehörigen begleitet werden könnten.
Als Zeichen der Trauer bleiben der Stadt Magdeburg zufolge alle städtischen Kultureinrichtungen, darunter Theater, Puppentheater und Museen, in den kommenden Tagen geschlossen.
Der Anschlag von Magdeburg beschäftigt nach Weihnachten auch den Bundestag. Am 30. Dezember sollen sich laut Informationen des ARD-Hauptstadtstudios der Innenausschuss und das Parlamentarische Kontrollgremium mit dem Fall befassen.
Mit Informationen der Nachrichtenagentur AFP