Menschen in Wahlkabinen

Thüringen und Sachsen Fünf Erkenntnisse für die Bundespolitik

Stand: 02.09.2024 05:31 Uhr

Für die Ampelkoalition ist der Wahlausgang ein klarer Denkzettel. CDU-Chef Merz kann seine Ambitionen als Kanzlerkandidat untermauern. Und das BSW muss sich fragen, ob Mitregieren wirklich die beste Option ist. Fünf Erkenntnisse aus den Landtagswahlen.

Von Tina Handel und Alexander Budweg, ARD Berlin

1. Die AfD ist keine Protestpartei mehr

Fast jeder dritte Wähler hat in Sachsen und Thüringen sein Kreuz bei der AfD gemacht. Und das nicht nur aus Protest. Laut Wahlanalyse von infratest dimap haben 52 Prozent der AfD-Wählerinnen und -Wähler in Thüringen die Partei aus Überzeugung gewählt.

So wird der AfD in mehreren Politikfeldern zugetraut, Lösungen herbeizuführen - und das stärker als den anderen Parteien. In Thüringen etwa meinen 31 Prozent aller Befragten, dass die AfD die besten Antworten in der Asyl- und Flüchtlingspolitik bietet. Auch bei Themen wie der Kriminalitätsbekämpfung oder der sozialen Gerechtigkeit liegt sie vorn.

Wohl auch deshalb können sich 37 Prozent eine Regierungsbeteiligung der AfD vorstellen. In Sachsen sind es 40 Prozent. Zwar will in beiden Ländern keine Partei mit der AfD koalieren. Doch AfD-Chefin Alice Weidel sieht ihre Partei dennoch gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen und spricht von einem "historischen Erfolg".

So ist die AfD in Thüringen mit Abstand stärkste Kraft und holt dort sowie in Sachsen mehr als ein Drittel der Sitze. Damit hat sie in beiden Landtagen eine sogenannte Sperrminorität. Verfassungsänderungen oder die Besetzung von Richterämtern sind damit gegen ihren Willen nicht mehr möglich.

Oder anders formuliert: Für ihre Zustimmung bei diesen Themen wird sie künftig Bedingungen formulieren können. Für die anderen Parteien bedeutet das zum einen, dass sie sich auch inhaltlich stärker mit der AfD auseinandersetzen müssen. Zudem haben CDU, SPD, Grüne, FDP und Linkspartei Probleme, mit ihren Lösungen zu überzeugen. Sowohl in Sachsen als auch Thüringen haben diese Parteien Stimmen an die AfD verloren. Auch am eigenen Angebot wird also zu arbeiten sein, will man Wähler von der AfD wieder zurückgewinnen.  

2. Neuer Machtfaktor BSW

Die Telefone dürften klingeln beim Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in den nächsten Tagen, wenn Sondierungsgespräche angebahnt werden. CDU-Spitzenmann Mario Voigt kommt in Thüringen kaum an der neuen Partei vorbei.

Auch in Sachsen muss Ministerpräsident Michael Kretschmer zu Gesprächen einladen, denn seine Kenia-Koalition hat voraussichtlich zu hohe Verluste fürs Weiterregieren. Damit gilt für das BSW: Nur Monate nach der Gründung muss die Partei über Regierungsbündnisse entscheiden. Und die Frage beantworten: Will sie überhaupt mitregieren? Oder lieber auf Protest in der Opposition setzen - und mit diesem Kurs bis zur Bundestagswahl weiter wachsen?

Erste Signale dazu gibt es bereits am Wahlabend: "Wir hoffen sehr, dass wir gemeinsam mit der CDU eine gute Regierung zusammenbekommen, und wahrscheinlich auch mit der SPD", sagt Wagenknecht im ARD-Interview. Das sind andere Töne als vor der Wahl.

Zugleich treibt das BSW den Preis für so eine Koalition hoch: Eine andere Politik in Bezug auf den Ukraine-Krieg solle sich in Sachsen und Thüringen zeigen. Die Schuldenbremse müsse weg, das sei "sehr wichtig, damit wir mit der CDU verhandeln können", fordert die sächsische BSW-Spitzenkandidatin Sabine Zimmermann. Man wolle kein "Mehrheitsbeschaffer" sein.

Man hält sich also Türen offen für den Gang in die Opposition. Denn für die bundespolitischen Chancen des Bündnisses ist Mitregieren durchaus ein Risiko. Die schnellen Lösungen, die das BSW bei vielen Themen verspricht - sie legen die Messlatte hoch und könnten zu erstem Frust bei Anhängern führen. Ob das BSW wirklich genug Führungspersonal für Ministerposten und entscheidende Fraktionsstellen hat, muss sich ebenso erst zeigen. 

3. Kanzlerkandidatur für Friedrich Merz in Sicht

Es sind zwar keine überragenden Ergebnisse für die CDU in Sachsen und Thüringen, dennoch ist Bundesparteichef Friedrich Merz damit seinem großen Ziel ein Stück nähergekommen. Er und CSU-Chef Markus Söder hatten sich darauf verständigt, nach den Wahlen im Osten die Kanzlerkandidaten-Frage zu klären.

Für Merz hieß das, er braucht solide Ergebnisse bei den drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Ausrutscher hätten hingegen dazu geführt, dass der bayrische Ministerpräsident sich wieder Hoffnungen hätte machen können. 

In Sachsen ist die CDU trotz einer erstarkenden AfD weiterhin stärkste Kraft und in Thüringen könnte sie nach zehn Jahren auf der Oppositionsbank wieder den Ministerpräsidenten stellen. Und auch wenn der CDU-Bundesvorsitzende eher eine Nebenrolle in den Landtagswahlkämpfen einnahm, wird er die Ergebnisse auf der Habenseite verbuchen. 

Auch CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn spricht von "Rückenwind für Friedrich Merz", dem es gelungen sei, in der vergangenen Woche die Debatte nach Solingen zu bestimmen. Das werde sicher auch einfließen in die Gespräche mit Markus Söder, so Spahn weiter. Allerdings: Die Landtagswahl in Brandenburg steht erst in drei Wochen an. Erst danach wird sich zeigen, mit wie breiter Brust Merz gegenüber dem CSU-Vorsitzenden auftreten kann.   

4. Zersplittert bis regierungsunfähig

In beiden Ländern dürften Koalitionsgespräche höchst schwierig werden - und am Ende könnten bislang unerprobte Bündnisse stehen. Genau das wird damit auch für die Bundestagswahl wahrscheinlicher. Etablierte Parteien wie die Grünen sind auf Talfahrt, müssen nach stabilen Jahren im Osten wieder zittern.

Die FDP ist dort bedeutungslos und verliert in den Ostländern womöglich genau die Stimmen, die sie bundesweit bräuchte, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Die Linke kann nur dank Bodo Ramelow in Thüringen zweistellig punkten. Für sie sind diese Landtagswahlen möglicherweise der letzte Überlebenskampf. Auch in Brandenburg droht das Aus - und bundesweit wird es ganz schwer, noch einmal drei Direktmandate zu gewinnen.

Viele inhaltliche rote Linien werden gezogen: Ukraine-Krieg, Schuldenbremse und mehr. Genau diese Trennlinien dürften auch 2025 eine Rolle spielen. Bündnisse werden schwieriger: Mit der AfD will keine andere Partei koalieren. Die CDU sagt sich immer lauter von grünen Partnern los. Die Grünen wiederum schließen eine Zusammenarbeit mit dem BSW aus. Alle werden genau hinschauen, ob Regieren in neuen Bündnissen im Osten klappt oder sich Zerwürfnisse vertiefen.  

5. Wiederauflage der Ampel wird immer unwahrscheinlicher

Die Wahlen in Sachsen und Thüringen sind eine herbe Niederlage für die Ampelparteien. Die FDP wird in keinem der beiden Landtage vertreten sein, die Grünen nur in einem und die Kanzlerpartei SPD verharrt im einstelligen Bereich.

Dabei waren die Sozialdemokraten bei der letzten Bundestagswahl erstmals seit fast zwei Jahrzehnten wieder stärkste Kraft im Osten. Drei Jahre später erscheint eine Wiederholung dieses Erfolges jedoch nahezu unmöglich. 

Dabei spielt auch die Bewertung von Olaf Scholz eine erhebliche Rolle. Nur 19 Prozent der Thüringer und 17 Prozent der Sachsen halten ihn für einen guten Bundeskanzler. 73 beziehungsweise 74 Prozent hingegen meinen, dass Scholz seiner Führungsverantwortung nicht gerecht wird. Auch die SPD sollte sich also langsam die Kandidatenfrage stellen.

Welch belebenden Einfluss ein Personalwechsel haben kann, zeigen derzeit die Demokraten in den USA. Doch Olaf Scholz scheint weiterhin als Spitzenkandidat der SPD für die kommende Bundestagswahl gesetzt zu sein. "Wir brauchen einen geschlossenen Kampf mit dem Bundeskanzler", sagt SPD-Chef Lars Klingbeil. 

Die Grünen hingegen scheinen das Ende der Ampel im Bund schon fast herbeizusehnen. "Wir werden das Vakuum, das es nach Merkel gegeben hat, in dieser Koalition nicht füllen können", sagt Parteichef Omid Nouripour. Er scheint nicht mehr daran zu glauben, dass sich SPD, Grüne und FDP ein Jahr vor der Bundestagswahl noch einmal zusammenraufen können und weniger öffentlich miteinander streiten. "Wenn wir das könnten, sollten wir das abstellen. Nur weiß ich, dass die Hoffnungen darauf kleiner geworden sind", sagt Nouripour.

Uli Hauck, ARD Berlin, tagesschau, 02.09.2024 07:37 Uhr