Gründe für Wahlergebnisse "Nahezu eine Bankrotterklärung"
Die Sozial- und Altersstruktur, das Gefühl der Benachteiligung gegenüber Westdeutschen und kaum aktive Mitgestaltung der Politik: Der Görlitzer Sozialwissenschaftler Raj Kollmorgen nennt Gründe für das starke Abschneiden der AfD.
tagesschau24: Herr Kollmorgen, die AfD hat bei vielen Landtagswahlen zuletzt gewonnen, aber stärkste Kraft ist sie zum ersten Mal in Thüringen. Sehen Sie die Gründe eher in einer Art Ampel-Frust oder liegt es vielmehr an negativen Erfahrungen seit der Wende?
Raj Kollmorgen: Ich würde beides zusammendenken wollen. Die Tatsache, dass viele Bürgerinnen und Bürger in den beiden Bundesländern während der Transformation und der Vereinigungszeit Erfahrungen gesammelt haben und da auch nicht nur gute, hat zu einer anderen Grundeinstellung gegenüber der Ampel geführt. Und das lässt sie die Ampel-Politik ganz anders kritisieren - nämlich radikaler.
Zwei Bundesländer mit Gemeinsamkeiten
tagesschau24: In Sachsen, wo Sie leben, schafft es die CDU auf Platz eins, in Thüringen ist es die AfD. Dort ist knapp jeder dritte Wahlberechtigte von der Höcke-AfD überzeugt. Gibt es eine Besonderheit in Thüringen?
Kollmorgen: Ich würde erstmal die beiden Bundesländer nebeneinander stellen und sagen, dass sie doch sehr viel mehr teilen, als sie Unterschiede aufweisen. Die zwei Bundesländer, auch wenn Sachsen mit Blick auf die Bevölkerungszahl fast doppelt so groß ist, sind doch sehr nah beieinander - nicht nur regional und geografisch gesehen. Die Besonderheiten sind einmal die Grenznähe, was Thüringen betrifft. Es gab da einen intensiveren Austausch, auch ein noch stärkeres Pendeln in die alten Bundesländer, insbesondere in den 1990er- und frühen 2000er- Jahren.
Ich glaube, dass die geografische Lage und auch eine etwas stärkere Ländlichkeit Thüringens und insofern ein anderer Konservatismus auch in weiten Teilen Thüringens wichtige Gründe dafür sind, dass Teile der Bevölkerung auch offener gegenüber der AfD sind.
Raj Kollmorgen ist gebürtiger Leipziger und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Zittau/Görlitz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört der Soziale Wandel, postsozialistische Transformationen in Osteuropa und die deutsche Vereinigung.
Altersstruktur spielt wichtige Rolle
tagesschau24: Welche Rolle spielt die Altersstruktur der Bevölkerung?
Kollmorgen: Natürlich spielt die Altersstruktur eine Rolle, und zwar keine unwichtige. Thüringen ist noch ein bisschen älter, als das in Sachsen der Fall ist. Natürlich sind die Sozialstruktur und die demografische Struktur zwei ganz wesentliche Ursachen auch für das Wahlverhalten. Ältere Menschen nehmen selbstverständlich die Probleme der Gegenwart anders wahr. Da geht es stärker um Fragen der Sicherheit, der Kriminalität, die Frage, wie sicher man sich fühlt, wenn man abends noch auf die Straße geht. Es geht um Fragen der Daseinsvorsorge, medizinische Angebote, Infrastrukturen spielen eine ganz wichtige Rolle.
Das ist bei Jüngeren nicht so ausgeprägt der Fall. Und wir haben eine andere Problemwahrnehmung vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte, der eigenen Biografie. Die Erfahrungen, die in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren gemacht worden sind, werden eingetragen in die Beurteilung der jetzigen Politik. Insofern spielt Alter für Wahlentscheidungen und politische Orientierungen und Einstellungen eine ganz wichtige Rolle.
Starke Protesthaltung
tagesschau24: Ich würde das unter dem Begriff "Transformationsschock" zusammenfassen. Zwischen 1990 und 95 haben etwa 75 Prozent der Menschen im Osten ihren Job verloren - als Folge der Wiedervereinigung. Und dadurch sind natürlich die Vermögensverhältnisse auch ganz andere als in Westdeutschland. Trotzdem ist ja die Frage, warum man sich dann auch übergeordneten bundespolitischen Themen so stark widmet? Der Eindruck ist schon, dass die landespolitischen Themen, so sagt es auch ein SPD-Spitzenkandidat, völlig überlagert waren.
Kollmorgen: Das hängt mit der Grundkonstellation zusammen. Und Ostdeutsche neigen dazu, doch stärker einerseits eine Protesthaltung aufzubauen und sie auch in ihre Urteilsfindung und ihre politischen Aktivitäten einzubringen. Also mit anderen Worten: Sie sind noch weniger gebunden in Parteien und Verbänden. Das heißt, man bewegt sich eher außen und blickt auf den gesamten politischen Prozess. Man bringt sich weniger aktiv in die klassischen Formen politischer Partizipation ein. Das ist die eine Seite.
Und die andere Seite ist eine Systemperspektive, die deutlich stärker als das in Westdeutschland der Fall ist, auch schneller die Frage stellt, ob das Gesamtsystem funktioniert. Das heißt, man redet dann nicht nur über lokale Politik oder über Landespolitik, sondern stellt relativ schnell die Frage: Funktioniert das System eigentlich so, wie es funktionieren sollte? Liegt es also nur an einzelnen Akteuren, die gerade versagen, weil sie nicht die richtige politische Programmatik entwickelt haben oder funktioniert das Gesamtsystem nicht? Ich spitze das jetzt bewusst zu aus einer radikalen populistischen Perspektive: Sind die Eliten insgesamt korrupt, hören sie gar nicht mehr auf das Volk? Das nehmen weitaus mehr Ostdeutsche als Westdeutsche wahr. Das Verhältnis ist ungefähr eins zu zwei. Also in Ostdeutschland neigt die doppelte Anzahl von Menschen dazu, eher das System verantwortlich zu machen und insgesamt eine grundsätzliche Elitenkritik zu formulieren.
Gefühl der Abwertung und Enteignung
tagesschau24: Und wie kommt das?
Kollmorgen: Das kann man auf der einen Seite erklären mit der Geschichte der ostdeutschen Länder, das heißt der Geschichte, die tiefer in die Vergangenheit zurückreicht und weit vor 1990 ansetzt. Natürlich sind gerade diese älteren Menschen, die so stark als Gruppe vertreten sind, in beiden Bundesländern durch die DDR direkt und auch nachgehend noch geprägt.
Zum anderen haben sie eben die Erfahrung gemacht mit der Transformation und der Vereinigungspolitik und viele haben sich sehr systematisch zurückgesetzt, abgewertet, entwertet, ja enteignet gefühlt. Also es so wahrgenommen, dass die westdeutschen Eliten und westdeutsche Unternehmen über das Land gerast sind und keinen Stein auf dem anderen gelassen haben. Und dass sie auch kein Interesse dafür aufgebracht haben, wie es den Ostdeutschen eigentlich geht.
Und da liegt eine Systemkritik vor beiden Hintergründen durchaus nahe - also vor dem Hintergrund der DDR, der revolutionären Überwindung, also der Tatsache, dass man schon mal aktiv ein System gestürzt hat. Und vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Kritik an der Transformations- und Vereinigungspolitik nach 1990. Man hat eine andere grundsätzliche Perspektive auf die Möglichkeiten, die Alternativen politischer Systeme überhaupt.
Weniger Duisburg, mehr Konstanz
tagesschau24: Jetzt haben wir viel über die Kritik am System gesprochen. Gleichzeitig muss man ja auch festhalten, dass die wirtschaftliche Lage in Thüringen zum Beispiel gar nicht so schlecht ist, auch das Durchschnittseinkommen nicht. Und wenn es viel um Migration und Asylpolitik gibt, ist der Ausländeranteil sowohl in Sachsen als auch in Thüringen ausgesprochen gering im Bundesvergleich. Da passen ja Gefühl und Realität nicht immer zusammen, oder?
Kollmorgen: Auf der einen Seite ja. Auf der anderen Seite vielleicht auch nein. Also ja, weil Sie vollkommen recht haben, dass die Lage in vielerlei Hinsicht wirtschaftlich und sozial betrachtet besser ist, als man glaubt, aus vielerlei Kritik und Positionierung heraushören zu können, ja sogar zu müssen. Aber da sind wir wieder bei dieser grundsätzlichen Protest- und Kritik-Haltung, die nur wenig umgemünzt wird in eine aktive Mitgestaltung.
Eine der letzten Umfragen hat gezeigt, dass rund drei Viertel der ostdeutschen Wahlbevölkerung meinen, dass man durch eigene politische Aktivität die politischen Inhalte gar nicht ernsthaft beeinflussen kann. Für eine demokratische politische Ordnung ist das nahezu eine Bankrotterklärung.
Und das andere ist der direkte Vergleich mit Westdeutschen. Viele Ostdeutsche neigen dazu, wenn sie an Westdeutschland denken, nicht nach Duisburg zu blicken, Gelsenkirchen oder das Saarland, sondern eher an Konstanz zu denken und an Hamburg-Blankenese. Und da sehen sie einen Reichtum und ein funktionierendes Bürgertum, dass sie glauben, im ostdeutschen Raum nicht vorfinden zu können. Sie sehen sich als entwertet und enteignet, als nicht gleichgestellt gegenüber den Westdeutschen. Zwei Drittel bis drei Viertel der Wahlbevölkerung sieht sich in bestimmter Hinsicht noch als Bürgerin oder Bürger zweiter Klasse. Und das schlägt bei der Beurteilung der eigenen Lage mit durch.
Das Interview führte Jan Starkebaum für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert.