Kindergrundsicherung Armutsbekämpfung aufgeschoben?
Mehr als 1,3 Millionen Kinder in Deutschland sind laut UNICEF dem Risiko ausgesetzt, dauerhaft in Armut zu leben. Die Organisation fordert, dass die Ampel mit Tempo ihre Vorhaben umsetzt - zum Beispiel die Kindergrundsicherung.
Die gute Nachricht: Die meisten Mädchen und Jungen in Deutschland erleben eine sichere und gesunde Kindheit. Die schlechte Nachricht: Die Zahl der Kinder, die in Familien aus den unteren Einkommensbereichen aufwachsen, steigt. Das Risiko, dauerhaft in Armut zu leben, begleitet derzeit mehr als 1,3 Millionen durch ihre Kindheit. Das sind die zentralen Ergebnisse des jüngsten UNICEF-Berichts zur Lage der Kinder in Deutschland.
Der Bericht hat Bildungschancen, Armutsrisiken sowie Zufriedenheit, Gesundheit und Sicherheit von Kindern im Vergleich der europäischen Länder und der Bundesländer untersucht. Zu den chronisch benachteiligten Gruppen von Kindern in Deutschland gehören vor allem jene, die mit nur einem Elternteil oder ohne Eltern aufwachsen sowie Kinder, die mehr als zwei Geschwister haben, deren erste Sprache nicht Deutsch ist oder die als Geflüchtete nach Deutschland kommen.
Es seien immer mehr Kinder, die ins gesellschaftliche Abseits geraten und die Chancen, die ihnen zustehen, nicht nutzen könnten. Auf die Ungleichheit der Voraussetzungen für eine gute Kindheit brauche es politische Antworten, mahnt Sebastian Sedlmayr von UNICEF Deutschland im Interview mit tagesschau24. Die Bundesregierung müsse jetzt mit Tempo die wesentlichen Dinge umsetzen, die im Koalitionsvertrag vereinbart wurden - etwa die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, mehr in die Ganztagsbetreuung zu investieren und die Kindergrundsicherung.
Start der Kindergrundsicherung in der Schwebe
Gerade bei der Kindergrundsicherung hakt es aber. Seit Wochen hängt das Kernprojekt der Koalition in der Ressort-Abstimmung fest. Eigentlich sollte es am Mittwoch im Bundeskabinett beschlossen werden - doch daraus wurde nichts. Der Gesetzentwurf kam nicht wie geplant zur Abstimmung.
Es seien noch "juristische und technische Details" zu klären, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus in einem Interview mit "t-online". Das sei jedoch "bei so einem Gesetzeswerk nicht ungewöhnlich". Doch gleichzeitig deutet das wohl auch darauf hin, dass nicht alle beteiligten Ministerien mit dem Gesetzentwurf zufrieden sind.
Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigt sich in einer internen Stellungnahme, die dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, skeptisch. Demnach schätzt die Behörde es als unrealistisch ein, dass das Vorhaben am 1. Januar 2025 starten wird: "Aufgrund der vielen organisatorischen und inhaltlichen Fragen, die der Referentenentwurf noch immer offenlässt, ist der derzeit selbst ein schrittweiser Einstieg in die Kindergrundsicherung zum 01.01.2025 - insbesondere aufgrund der notwendigen IT-Anpassungen - nicht mehr vorstellbar."
Die Empfehlung der Bundesagentur ist daher eine gestaffelte Einführung der Kindergrundsicherung: In einem ersten Schritt soll demnach die Auszahlung der neu zusammengefassten Leistungen erfolgen, in weiteren Schritten dann "die vollständige Digitalisierung und Automatisierung sowie der Kindergrundsicherungs-Check". Frühestens zum 1. Juli 2025 könne ein Inkrafttreten der Kindergrundsicherung aus Sicht der BA erfolgen.
Umbenannt in "Familienservicestellen" sollen die Familienkassen für die Auszahlung zuständig sein. Die Bundesagentur für Arbeit, der die Familienkassen unterstehen, muss das Vorhaben in die Praxis umsetzen. Neben einem Garantiebetrag, den jedes Kind bekommt, soll es künftig noch den einkommensabhängigen Zusatzbetrag für ärmere Kinder geben.
Keine Unterstützung aus Bayern
Die Familienministerin gibt sich weiterhin zuversichtlich, das Vorhaben noch im September durch das Kabinett beschließen zu lassen. Aber auch danach muss das Gesetz weitere Hürden nehmen: Nach der Befassung im Parlament muss letztendlich der Bundesrat zustimmen. Dort hat die Ampelkoalition keine Mehrheit und ist demnach auf die Unterstützung durch von der Union geführte Länder angewiesen.
Aus Bayern beispielsweise wird diese Unterstützung wohl nicht kommen. Die bayerische Familienministerin Ulrike Scharf spart in einer Stellungnahme nicht mit Kritik: "Mit der geplanten Bündelung der Leistungen wird ein neues Bürokratie-Ungeheuer geschaffen und keine echte Verbesserung für Familien."
Scharf fordert gemeinsame Beratungen und einen geordneten Prozess, um die Umsetzung der Kindergrundsicherung zu gewährleisten. Die Bundesländer, die Landkreise und die Kommunen seien von den Umstrukturierungen massiv betroffen und müssten bei allen weiteren Schritten beteiligt werden.
Aus Regierungskreisen heißt es, die Abstimmung im Bundesrat könnte Mitte November stattfinden.