Debatte nach Landtagswahlen "Parteiensystem hat alte Stabilität verloren"
Wie stark ist Scholz' Image in der SPD nach den Landtagswahlen angekratzt? Und was sollten die demokratischen Parteien aus den AfD-Erfolgen lernen? Politologe Blätte über die Lehren aus Thüringen und Sachsen.
tagesschau24: Vor allem die Ampelparteien wurden bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen abgestraft. Welchen Ratschlag geben Sie zum Beispiel der SPD?
Andreas Blätte: Es ist eine schwierige strategische Lage, in der sich jetzt alle Parteien befinden. Und das betrifft nicht nur die Koalitionspartner der Ampelkoalition, sondern auch die CDU. Bei der SPD war man darauf eingestellt, dass diese Wahlen schlecht laufen würden. Der Ausgang der Wahl in Brandenburg ist ja noch offen, aber auch da ist man auf schlechte Nachricht eingestellt.
Die Fraktion hat ja einige Jahre Tätigkeit hinter sich und war nicht untätig in dieser Phase. Die große Herausforderung ist nun, das Geleistete in der Bundesregierung sichtbar zu machen. Und auch einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht fälschlich auf Themen zu setzen, weil die SPD zwar handeln kann, aber dann doch nicht die Kompetenzzuschreibung durch die Wählerinnen und Wähler hat.
Das betrifft namentlich das Feld der Migrationspolitik, wo großer Handlungsbedarf besteht und gesehen wird. Trotzdem ist das nicht das genuine Kompetenzfeld der SPD, das liegt im Bereich Arbeit und Soziales.
"Pistorius würde viele Probleme erben"
tagesschau24: Am 22. September wird in Brandenburg gewählt. Sollte auch dieses Bundesland, in dem die Sozialdemokraten seit 1990 dem Ministerpräsidenten stellen, verloren gehen, was käme da auf die Partei zu?
Blätte: Die Debattenlage innerhalb der Partei ist natürlich dann schwierig. Es wird ein Fragezeichen geben, ob der Bundeskanzler der richtige Kandidat ist. Aber er genießt den Rückhalt der Parteiführung, das wird sehr deutlich bekundet von den Parteivorsitzenden. Insofern ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Spekulation, ob es da wirklich zu einer Personaldebatte kommen würde.
Der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius wäre natürlich jemand, der hohe Beliebtheitswerte hat. Aber er würde viele Probleme erben, die jetzt den Bundeskanzler belasten. Insofern ist es ganz offen, ob es eine Alternative tatsächlich geben kann, das sieht man dann erst am Wahlabend.
"Viele Themen zuungunsten der Grünen"
tagesschau24: Auch die Grünen haben schwach abgeschnitten. Warum können sie im Osten nicht punkten?
Blätte: Die Themen der Grünen haben zurzeit keine rechte Konjunktur. Der Klimawandel wird zwar greifbar durch alle Statistiken, die wir haben. Der Sommer ist wieder einer der wärmsten, den wir jemals hatten. Insofern verfehlen sie nicht die objektive Problemlage, aber andere Probleme haben sich in den Vordergrund geschoben.
Es ist schwerer, die Klimatransformation zu schaffen, weil sie die Haushaltslage belastet. Wir haben den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und viele Themen, die einfach dominant geworden sind, auf der Tagesordnung - zuungunsten der Grünen.
Trotzdem bleibt es eine stabile Wählergruppe, bundesweit betrachtet, die glaubt, dass die Grünen wichtige Themen haben. Und da heißt es eben auch für die Grünen, Nerven zu bewahren und jetzt nicht ganz eilig das Pferd zu wechseln, auf dass man setzen möchte.
Andreas Blätte ist Politikwissenschaftler. Er lehrt als Professor für Public Policy und Landespolitik der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören bundesländervergleichende Politikforschung sowie Politikbereiche mit Querschnittscharakter, insbesondere Migrations- und Integrationspolitik.
BSW: Viele Anleihen beim CDU-Programm
tagesschau24: Um in Thüringen an die Macht zu kommen, müsste auch die CDU mit dem BSW zusammenarbeiten. Da gibt es kräftigen Gegenwind aus den eigenen Reihen. Welche Halbwertszeit haben denn so Beschlüsse wie der Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU in Richtung Linke und AfD?
Blätte: Im Grunde haben wir im deutschen Parteiensystem einen langfristigen Lernprozess vollzogen. Das Parteiensystem hat seine alte, lange Stabilität verloren. Es sind neue Parteien hinzugekommen. Das Auftreten der Linken, die Piraten, die es temporär gab, die AfD, jetzt das Bündnis Sahra Wagenknecht.
Man hatte eigentlich schon gelernt, dass eine "Ausschließeritis", wie man das eine Zeit lang nannte, Koalitionsmöglichkeiten verbaut, auf die man dann doch zurückgreifen muss. Insofern wäre es richtig für die Parteien, da eine gewisse Offenheit an den Tag zu legen.
Zumal es keine richtige Einordnung ist zu denken, das BSW sei jetzt einfach nur eine umgespritzte Linke, die vielleicht migrationspolitisch konservativer ist. Es ist eine Partei neuen Typs, die hier gerade entsteht, die sehr stark personenzentriert ist und wo man eine Assemblage politischer Positionen hat.
Das BSW nimmt auch viele Anleihen beim CDU-Wahlprogramm, wenn man das im Einzelnen analysiert. Und die Schnittmengen mit der CDU sind alles andere als minimal. Insofern müsste sich die CDU auf eine neue Situation vielleicht noch mal anders einstellen können.
Der Agenda der AfD unterworfen?
tagesschau24: Mit Blick auf die Bundestagswahl im nächsten Jahr: Was muss sich denn bei allen etablierten Parteien tun, um gegen die AfD zu bestehen?
Blätte: In der Ampelkoalition ist der Team Spirit nicht gut genug. Wir haben zu viele offen ausgetragene Konflikte der amtierenden Bundesregierung. Ein Stück weit war man ja des Konflikts entwöhnt: Unter der Regierung von Angela Merkel wurde alles still und leise gelöst hinter den Kulissen, man war nicht mehr gewöhnt, dass es Debattengegenstände gibt.
Jetzt gibt es einen Überschuss an öffentlich ausgetragenen Debatten in der Ampelkoalition und dadurch auch Vertrauensverluste, die die Zusammenarbeit belasten. Auch da, wo man inhaltlich eigentlich an einem Strang zieht und auch gemeinsame Erfolge vorweisen kann, ist der Blick darauf verstellt.
Die Koalition wird schon beisammenbleiben. Aber in gewissen Rahmen wieder einen Gemeinschaftsspirit aufkommen zu lassen - das müsste die Ampelkoalition schaffen.
Alle Parteien im Bundestag, insofern sie der AfD trotzen wollen - und damit einer Partei, die in Teilen als gesichert rechtsextrem gilt -, müssten im Grunde lernen, die Konflikte nicht an einer Stelle auszutragen, wo sie alle nur gemeinsam verlieren können.
Der Streit um die Migrationspolitik ist in Teilen ein Nullsummenspiel, bei dem größere Reformvorhaben auf der europäischen Ebene aufs Gleis gesetzt sind: Das gemeinsame europäische Asylsystem wurde vor der Europawahl beschlossen. Es ist mit schweren Bedenken behaftet, ob man da noch im Bereich des Humanitären war, ob das noch vertretbar ist. Aber die Weichen sind gestellt, hin zu einer stärkeren Migrationskontrolle auf der europäischen Ebene.
Man kannibalisiert diese Schritte eigentlich, indem dann immer noch was draufgesetzt wird. Und keine der etablierten Parteien gewinnt dabei, sondern es spielt der AfD in die Karten, deren Agenda man sich da ständig unterwirft.
Das Gespräch führte Kirsten Gerhard für tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es gekürzt und redigiert.