Migration Wer kommt nach Deutschland - und warum?
Deutschland braucht qualifizierte Einwanderer für den Arbeitsmarkt. Zugleich wird versucht, die Zahl der Asylbewerber zu verringern. Ein Experte rät, diese Gruppen nicht getrennt zu betrachten.
Im vergangenen Jahr sind rund 1,9 Millionen Menschen nach Deutschland gezogen. Etwa 1,3 Millionen haben das Land verlassen. Unter dem Strich blieb ein Plus von 663.000 Menschen. Das ist die sogenannte Nettozuwanderung, und die sei wichtig, schreibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit: Bis zu 400.000 Personen pro Jahr wären notwendig, um längerfristig das Arbeitskräftepotenzial konstant zu halten.
Die Zahl der Menschen, die benötigt werden, und die Zahl der Menschen, die tatsächlich nach Deutschland kommen, liegen in den meisten Jahren gar nicht so weit auseinander.
Etwa die Hälfte EU-Bürger
Aber wer kommt momentan nach Deutschland? Im vergangenen Jahr waren mehr als die Hälfte der Zuwanderer EU-Bürger, so wie in den meisten Jahren davor. Also Menschen, die innerhalb der EU umziehen - ohne Visum.
Bei den Nicht-EU-Bürgern war die Gruppe der ukrainischen Kriegsflüchtlinge die größte. Außerdem kamen im vergangenen Jahr 329.120 Menschen, die Asyl beantragt haben.
Die nächstgrößere Gruppe von Zuwanderern war die der engen Familienangehörigen von Menschen, die schon in Deutschland leben. Die drittgrößte Gruppe seien Fachkräfte, vor allem aus Indien, gewesen, sagt Petra Bendel, Migrationsforscherin am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen.
Asylbewerber aus Syrien, Afghanistan und der Türkei
In den derzeitigen Debatten über die Zuwanderung geht es allerdings weniger um die oft mühsam angeworbenen Fachkräfte, sondern vor allem um Asylsuchende. Diese Gruppe habe im vergangenen Jahr immer noch zum größten Teil aus Geflüchteten aus den Kriegs- und Konfliktländern Syrien und Afghanistan bestanden, sagt Albert Scherr, ehemaliger Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
Viele Menschen kamen 2023 aber auch aus der Türkei, einem Land, das eine lange historische Verbundenheit mit Deutschland als Zuwanderungsland hat. "Da sehen dann Leute aus der politischen Opposition eine Chance, hier Aufnahme zu finden", sagt Scherr.
Freunde wichtiger als Sozialsystem
Das Beispiel Türkei macht deutlich, wie entscheidend historisch gewachsene Beziehungen sind. Letztendlich seien es nämlich vor allem persönliche Kontakte, die bestimmen, in welches Land Menschen fliehen. "Leute ziehen dorthin, wo sie Leute kennen", sagt Hannes Schammann, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. "Das ist ganz normal und daran ändert auch der Sozialleistungsbezug wenig."
Das bestätigt eine wirtschaftswissenschaftliche Studie aus Großbritannien zur Migration in die EU-Mitgliedstaaten: Grund Nummer eins, warum Menschen sich für Deutschland oder ein anderes Land als Ziel entscheiden, seien ihre persönlichen sozialen Kontakte.
Wenig Wirkung hätten dagegen Arbeitsverbote im Zielland als Abschreckung. Die seien vielmehr kontraproduktiv aus der Sicht des aufnehmenden Landes, sagt Schammann: "Weil die Menschen nicht in Arbeit kommen, man sie länger in Sozialleistungen halten muss und das letztendlich mehr kostet."
Arbeitsvisa für Menschen in bedrohten Staaten
Die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Fluchtmigranten, die in Deutschland Schutz suchen, und Arbeitsmigranten, die dem Land wirtschaftlich nützen, sei in der Realität nicht möglich, betont Schammann.
Auch bei den Lösungen für eine sinnvolle Migrationspolitik solle man besser alle Migrantinnen und Migranten gemeinsam betrachten und so alle Potenziale für den Arbeitsmarkt voll ausschöpfen. Schammann denkt zum Beispiel an Arbeitsvisa für Menschen aus Ländern, die besonders stark vom Klimawandel betroffen sind. So könne man sie in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren, schon bevor sie ihr Land verlassen müssen und Flüchtlinge werden.
Wissenschaft sieht mehr Potenzial
Insgesamt nimmt Deutschland mehr Flüchtlinge auf als die meisten westlichen Staaten und steht damit hinter den Genfer Konventionen. Aber es könnte noch viel mehr daraus gemacht werden, sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. So könnten Einwanderer und Alteingesessene mehr voneinander profitieren.
Auch der Soziologe Scherr sieht das so und ist deshalb enttäuscht von den aktuellen Debatten um die Migration. Er findet, es ginge darin nicht um eine sachliche Auseinandersetzung mit der realen Situation. "Sondern um einen populistischen Diskurs, der überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, dass ein breiter Teil der Bevölkerung durchaus die Bereitschaft hat, offen und vorurteilsfrei über diese Thematik zu reden."