Demonstranten mit unter anderem dem Schild "Wir verlieren unser Leben, ohne zu sterben" haben sich vor dem Roten Rathaus für fünf Minuten zu einer Liegend-Demo auf den Boden gelegt.

Demo von Menschen mit ME/CFS Sichtbar bleiben - trotz schwerer Krankheit

Stand: 08.08.2024 18:32 Uhr

Unter dem Motto "LiegendDemo" haben Betroffene bundesweit auf ME/CFS aufmerksam gemacht. Erkrankte leiden die meiste Zeit im Verborgenen. Schon kleinste Aktivitäten können zur kompletten Überlastung führen.

Das Leben von Gritt Buggenhagen spielt sich überwiegend auf zwei Quadratmetern ab. So groß ist ihr Bett. Dort verbringt sie pro Tag 22 bis 23 Stunden. Im Halbdunkeln. Ihr Zimmer gleicht einer Höhle. Das Bett in der Ecke, die schwarzen Gardinen sind geschlossen, eine Schrankwand steht quer im Raum, um noch mehr Helligkeit auszuschließen, weil sie extrem lichtempfindlich ist. Nur durch einen schmalen Spalt dringt Licht herein. Das ist seit Jahren ihr Lebensraum.

Uta Behrends, Kinderklinik der TUM und der München Klinik, zu möglichen Behandlungen des chronischen Fatigue-Syndroms

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"Ich kann das Bett am Stücke eine halbe Stunde bis zu einer Stunde verlassen", erzählt Gritt Buggenhagen. Das sind die guten Tage. An den schlechten sind es nur für fünf bis zehn Minuten. In diesem Zustand befindet sie sich seit 2018. Im Jahr davor hat sie ihr Zimmer umgeräumt. Damals hatte sie einen Crash, der ihren Zustand noch einmal verschlechterte. Sie hat Schmerzen, ihr ist schwindelig. Ihr fehlt einfach die Kraft für alles.

Vor die Tür kommt sie nur mit einem Elektrorollstuhl. Sie versucht jeden Tag vor die Tür zu kommen. Zumindest kurz - oder sich zumindest in den Rollstuhl zu setzen. "Wenn es mir richtig gut geht, dann schaffe ich es sogar mal einzukaufen", erzählt sie. "Das sind dann wirklich die Highlights, das macht sehr viel Spaß, also das ist was ganz Besonderes."

Der lange Weg zur Diagnose

Ihr Leidensweg begann 2001. Damals hatte Gritt Buggenhagen Pfeiffersches Drüsenfieber. Danach wurde ihre Kraft immer weniger, die Leistungsfähigkeit nahm ab. Das Abendstudium zur Heilerziehungspflegerin schloss sie noch ab, doch schon da musste sich die Berlinerin immer weiter einschränken. Arbeiten und schlafen - mehr ging nicht. Für die Freizeit oder Fortbildungen fehlte die Energie. Und trotzdem war sie ständig erschöpft, kraftlos, hatte Schmerzen, Schwindel und Migräne.

Eine Ursache fanden die Ärzte lange nicht. Sie habe Depressionen, hieß es immer wieder. Ihre Symptome seien psychisch bedingt, körperlich sei sie gesund. Niemand konnte ihr helfen.

Kundgebung fordert bessere Versorgung für chronisch Kranke mit ME/CFS

Markus Reher, RBB, tagesthemen, 08.08.2024 22:15 Uhr

Erst 2017 bekommt sie in der Berliner Charité die Diagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom kurz ME/CFS. ME/CFS ist eine neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. "Ich war so glücklich, endlich zu wissen, dass ich nicht spinne, sondern dass hier was da ist." Gritt Buggenhagen ist eine von geschätzt 250.000 Menschen, die vor der Coronapandemie an ME/CFS erkrankten.

Durch Corona sind noch einige dazugekommen

"Corona ist inzwischen die häufigste Ursache auch für ME/CFS bei unseren Patienten. Wir gehen also davon aus, dass sich die Zahlen inzwischen verdoppelt haben", sagt Professorin Carmen Scheibenbogen vom Institut für Medizinische Immunologie an der Charité. Am Universitätsklinikum versucht man, die Krankheit und die Patienten zu verstehen. Das falle vielen Ärzten schwer, da die Symptome so vielfältig seien und weil oft massive Verschlechterung auftreten würde wegen der Belastungsintoleranz. "Das heißt, man kann oft Alltagsdinge kaum noch schaffen. Wenn man zu viel macht, dann werden alle Symptome stärker."

Ein Teufelskreis. Ein Viertel der Betroffenen ist bettlägerig und auf Hilfe angewiesen. Doch die gibt es oft nicht. Keine Therapie, keine Medikamente, keine Hilfe. "Wenn sie Glück haben, werden sie von den Angehörigen gepflegt. Wenn sie Pech haben, kümmert sich niemand und man kann daran sterben, einfach weil man sich nicht mehr selbst versorgen kann", sagt Professorin Scheibenbogen. 

Aufstehen - im Liegen

Auch Gritt Buggenhagen steht ziemlich allein da. Pflegestufe 1 hat sie inzwischen. Heißt: Unterstützung einmal die Woche zum Duschen. Ihr Mitbewohner hilft, so gut wie er kann. Was sie ärgert? Das fehlende Verständnis von Gutachtern, von Kassen und fehlende Forschung. Das soll sich ändern. Und deshalb versuchen ME/CFS-Betroffene jetzt sichtbar zu werden. So gut es eben geht.

Gritt Buggenhagen hat Demonstrationen organisiert. Vom Bett aus im Liegen, als gerade nichts anderes mehr ging. "Da habe ich bei Twitter geschrieben, ich lege mich vor den Bundestag. Wer legt sich mit mir dorthin?" Im Mai 2023 fand die erste Liegend-Demo statt, heute war es die 33.

Auf den Schildern der Betroffenen steht zum Beispiel "Unterversorgt und ungehört" oder "Müde. Wütend. Einsam." Gritt Buggenhagen ist nicht am Roten Rathaus. Sie schafft es nicht. Sie liegt zu Hause in ihrem Bett, wo niemand sie sieht.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 15. Mai 2024 um 06:50 Uhr.