Gläubige stehen mit gefalteten Händen in der Kirche.
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Sexualisierte Gewalt Bischof will Entschädigung nicht zahlen

Stand: 22.12.2023 10:52 Uhr

Ein Betroffener von sexualisierter Gewalt durch einen Priester soll 150.000 Euro Entschädigung bekommen. So hat es eine von der Kirche eingesetzte Kommission entschieden. Doch der zuständige Bischof will nicht zahlen.

Von Christina Zühlke, WDR

Als Hans-Joachim Ihrenberger hörte, dass das Bistum Augsburg ihm eine Entschädigung von 150.000 Euro nicht zahlen will, war er fassungslos. Vor allem, über die Begründung, dass seine aktuelle Lage doch gar nicht so schlecht sei: "Zu sagen, ich habe eine Berufsausbildung, zwei Kinder und eine Ehe, und deswegen zahlen wir nicht. Das war ein Schlag ins Gesicht. Die wissen doch gar nicht, wie es mir wirklich geht."

In Wirklichkeit, sagt Ihrenberger im Gespräch mit dem WDR-Rechercheteam "Kirche und Missbrauch", bekomme er, wenn seine Ehefrau ihn berühren wolle, immer noch Angstzustände. Schon als der heute 62-Jährige als junger Mann seine Ausbildung zum Koch abgeschlossen habe, habe das viel länger gedauert als üblich.

Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. Nach zwei Herzinfarkten und drei Schlaganfällen könne er kaum noch das Haus verlassen.

In seinem Fall droht nun erstmals ein deutscher Bischof, die Entscheidung der eigens eingesetzten Entschädigungskommission zu blockieren, deren Unabhängigkeit stets betont wurde: Augsburgs Bischof Bertram Meier hat sein Nein der Kommission schriftlich mitteilen lassen. Das Schreiben liegt dem WDR vor.

Auf die Anfrage des Senders hin teilt ein Sprecher des Bischofs zwar mit, es sei noch nicht alles entschieden. Die Aussagen in den Briefen sind allerdings recht deutlich.

Verletzungen bis heute

Dass er die Verletzungen durch den Priester bis heute bei jedem Toilettengang spürt, steht in den Unterlagen, die Ihrenberger an die Kirche geschickt hat. Darin beschreibt er, wie er als Kommunionkind vom Priester zum ersten Mal im Genitalbereich "gestreichelt" wurde und auch ihn dort habe berühren müssen. Es folgten, so steht es in Ihrenbergers Antrag auf Entschädigung, zwei Jahre schlimmster sexualisierter Gewalt, auch mit Vergewaltigungen.

Bertram Meier

Augsburgs Bischof Bertram Meier hat der Entschädigungskommission seine Ablehnung schriftlich mitteilen lassen.

Das Bistum Augsburg, wo die sexualisierte Gewalt laut Ihrenberger geschah, hielt seine Angaben für plausibel und leitete sie an die "Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen" (kurz UKA) weiter. Die UKA wurde von den deutschen katholischen Bischöfen ins Leben gerufen und entscheidet seit 2021 darüber, wie viel Geld Betroffene sexualisierter Gewalt in der Kirche bekommen sollen.

Seit der Gründung wird die Kommission kritisiert. Die Kommission sei nicht wirklich unabhängig, sie sei von den Bischöfen nach deren Spielregeln eingesetzt worden. Außerdem seien die gezahlten Beträge zu niedrig.

"Wir sind in unseren Entscheidungen frei"

Die Mitglieder der Kommission widersprechen. Obergrenzen für Wiedergutmachungsleistungen gebe es keine. Die Höhe der Leistungen orientiere sich vielmehr daran, was staatliche Gerichte in vergleichbaren Fällen an Schmerzensgeldern zuerkannt haben.

Außerdem sei die Kommission unabhängig. "Wir sind in unseren Entscheidungen frei", sagte etwa Kommissionschefin Margarete Reske schon 2022 in einem Interview mit der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt".

Im Fall von Hans-Joachim Ihrenberger lautete die Entscheidung, dass das Bistum Augsburg ihm 150.000 Euro zahlen solle. "Die UKA sieht hier einen besonders schweren Härtefall", heißt es in einem Brief der Kommission an das Bistum Augsburg, der dem WDR vorliegt.

Das bayerische Bistum antwortete Ende November: "Nach intensiven internen Beratungen, zuletzt mit dem (…) Herrn Bischof Dr. Bertram Meier, muss mitgeteilt werden, dass das Bistum Augsburg dieser (…) Anerkennungsleistung nicht zustimmen kann." Auch dieser Brief liegt dem WDR vor.

Denn in der Verfahrensordnung der Kommission ist klar vermerkt: Ab 50.000 Euro muss der Bischof zustimmen, dessen Bistum zahlen müsste. Darauf verweist auf WDR-Anfrage auch die Deutsche Bischofskonferenz.

Bisher alle Zahlungen genehmigt

Stefan Vesper, Leiter der UKA-Geschäftsstelle sagt, es habe im Jahr 2022 in 143 Fällen den Vorschlag gegeben, mehr als 50.000 Euro zu zahlen. "In allen Fällen wurde die Zustimmung der kirchlichen Institution erteilt." Auch der Tätigkeitsbericht der Kommission aus dem Jahr 2021 führt auf, dass alle Zahlungen genehmigt wurden.

Damit wäre der Fall Ihrenberger ein Novum: Ein Bischof blockiert die Entscheidung der Kommission, die von den Bischöfen eingesetzt worden ist.

UKA weist Kritik zurück

Doch Kritik an mangelnder Unabhängigkeit weist Vesper zurück: "Das Gegenteil ist der Fall, zeigt doch die Entscheidungspraxis, dass die UKA strikt gemäß der Verfahrensordnung vorgeht und die kirchlichen Institutionen eben keinen Einfluss auf die Entscheidungshöhe dieses unabhängigen Gremiums von Fachleuten bei ihrer Einzelfallentscheidung haben."

Der Pressesprecher des Bistums Augsburg, Nicolas Schnall, betont, das Verfahren Ihrenberger sei noch nicht abgeschlossen. "Das Bistum Augsburg steht in dieser Frage mit der UKA in Kontakt." Für Schnall sind Leistungen im sechsstelligen Bereich aber nicht mehr nur Anerkennungszahlungen, sondern "Schmerzensgeldzahlungen".

Wenn die Bischofskonferenz in Folge eines Kölner Schmerzensgeld-Urteils den Zahlungsrahmen entsprechend nach oben anpassen sollte, sei aus Bistumssicht eine Neubewertung des Verfahrens vorzunehmen.

"Finanzielle Möglichkeiten nicht außer Acht lassen"

Trotzdem heißt es in der Augsburger Stellungnahme an den WDR: "Die UKA ist in Ihren Entscheidungen unabhängig, sie unterliegt keinerlei Weisungen." Aber es sei "gerade im Interesse der Betroffenen", dass "die finanziellen Möglichkeiten der Bistümer nicht vollständig außer Acht gelassen werden".

Ob das Verfahren schon ganz abgeschlossen ist oder der Betroffene noch eine Chance hat: Für Hans-Joachim Ihrenberger hat die Kirche erst einmal Nein gesagt. Getroffen hat ihn die Argumentation, die ihn auch noch kritisiert.

Im Schreiben an die UKA begründet das Bistum den Widerstand gegen die Zahlung auch mit dem, was Ihrenberger in seinem Leben trotz der sexualisierten Gewalt erreicht hat. "Es fällt auf, dass dem Betroffenen anscheinend keinerlei Blick auf das Positive an seinem früheren Leben (Ehe, Kinder, Erfolg im Beruf) mehr möglich ist, vielmehr führt er seine gesamte heutige Situation ausschließlich auf den Missbrauch zurück."

"Vom Wohlwollen abhängig"

Johannes Norpoth hat selbst als Kind sexualisierte Gewalt erlebt. Heute ist er Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz. Auch er sieht im Augsburger Schreiben an die UKA ein Nein. "Mit seiner Weigerung bestätigt Bischof Meier alle Befürchtungen, das System sei immer vom Wohlwollen und Gutdünken der deutschen Bischöfe abhängig."

Der Kölner Staatrechtsprofessor Stephan Rixen kritisierte immer wieder, dass die UKA ein "juristisches Nullum" sei. "Sie ist ein innerkirchlicher Dienstleister, der in einem intransparenten Verfahren Zahlungen der Bistümer vorbereitet." Dass die UKA der verlängerte Arm der Bischöfe sei, werde besonders deutlich bei Zahlungen von mehr als 50.000 Euro, denen der Bischof zustimmen muss.

UKA-Verfahren hat auch Vorteile

Für eine Abschaffung der UKA ist Rixen nicht. Und auch Johannes Norpoth betont, dass das Verfahren für Betroffene durchaus Vorteile hat. Es sei damit möglich, dass "unter der oft anzutreffenden, desaströsen Aktenlagen, aber auch der schweren Traumatisierung mit daraus resultierender Sprachlosigkeit von Betroffenen Zugang zu Leistungen ermöglicht wird."

Hans-Joachim Ihrenberger hätte vor einem staatlichen Gericht vermutlich wenig Chancen, die dort nötigen Beweise zu erbringen. Er sagt, die Mitarbeitenden der UKA hätten ihm sehr geholfen. "Mir geht es ja gar nicht um das Geld." Es gehe auch um seine Glaubwürdigkeit. "Damals bekam ich Dresche, als ich vom Missbrauch erzählte. Und meine Mutter hat mir bis jetzt nicht geglaubt, was damals passiert ist."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 03. Februar 2023 um 14:30 Uhr.