Corona und chronisch Kranke Ein sorgloser Sommer - nicht für alle
Feste, Konzerte: Deutschland freut sich auf einen Sorglos-Sommer. Doch Corona ist nicht vorbei, noch immer stecken sich Menschen an. Ein Risiko für chronisch Kranke.
"Die halbe Welt vergisst Corona", sagt Sabine Henner. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was sie damit meint: Massenveranstaltungen finden wieder statt, an vielen Orten entfallen Masken- und Testpflicht. Eine Sommersorglosigkeit macht sich breit, die angesichts einer noch immer dreistelligen Inzidenz für Henners Familie zur Bedrohung werden kann. Genauer gesagt: für ihre acht Jahre alte Tochter Ellis, die an Mukoviszidose erkrankt ist.
Die Stoffwechselerkrankung beeinträchtigt die Funktion mehrerer Organe von Ellis, etwa der Lunge und der Bauchspeicheldrüse. Drei Mal täglich muss sie inhalieren, um den zähen Schleim zu lösen, der sich in ihrer Lunge bildet. Mukoviszidose ist nicht heilbar. Wegen der Erkrankung hält Ellis' Mutter Sabine Henner eine Rückkehr zum normalen Alltag für verfrüht: Der Kindergeburtstag im Indoor-Spielplatz, die Anmeldung bei der Musikschule, das Kinderturnen im Sportverein - alles noch zu unsicher, findet Henner. Die Corona-Infektionszahlen sind derzeit deutlich höher als vor einem Jahr, hinzu kommen zahlreiche Grippefälle bei Kindern. "Samstags gehen wir nicht einkaufen, wenn die Läden zu voll sind", erzählt Henner.
"Wie ein Außerirdischer"
Freiwillige Ausgrenzung statt vollständiger Rückkehr zum Alltag: Davon betroffen sind viele chronisch kranke Menschen, so auch Jürgen Frischmann. Der 60-Jährige litt an einer schweren Lungenkrankheit und bekam vor zwei Jahren eine neue Lunge transplantiert. Seitdem nimmt er Medikamente ein, die das Immunsystem unterdrücken. "Ich bin klarer Risikopatient", sagt Frischmann. Wie auch Familie Henner hält er etwa das Aufweichen der Maskenpflicht für verfrüht - denn freiwillig halte sich ohnehin fast niemand mehr daran. "Die Leute schauen einen ja zum Teil komisch an, wenn man selbst mit Maske einkaufen geht", sagt Frischmann. "Man fühlt sich wie ein Außerirdischer."
Kostenlose PCR-Tests
Auch Patientenschützer warnen vor einem allzu sorglosen Umgang mit der Pandemie in diesem Sommer und fordern etwa bundesweit konsequente Testmöglichkeiten mit Blick auf Risikogruppen. "Chronisch Kranke, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollten einen gesetzlichen Anspruch auf einen kostenlosen PCR-Test zwei Mal wöchentlich haben", findet Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Die Regierung habe es versäumt, hier eine Priorisierung auf den Weg zu bringen. "Deutschland setzt PCR-Tests leider auch nach mehr als zwei Jahren nicht strategisch sinnvoll ein."
Ein Schild fordert die Kunden zum freiwilligen Tragen eines Mund-Nasenschutzes auf.
Außerdem beklagt Brysch fehlende Daten zur Bewertung der Schutzmaßnahmen. Dazu müsse der Expertenrat der Bundesregierung Erkenntnisse vorlegen. "Es geht nicht nur um das Tragen von Masken, sondern auch um Abstandhalten und etwa um die Schließung von Kultureinrichtungen. Überfällig ist eine verlässliche Datenbasis, welche dieser Maßnahmen wirklich etwas gebracht hat und welche nicht." Ohne die Umsetzung einer nachweislich hilfreichen Corona-Politik schwinde der gesellschaftliche Rückhalt dafür - und Risikogruppen bliebe nur die Selbstisolation.
"Wir wünschen uns Rücksicht"
Sabine Henner findet es ärgerlich, dass es derzeit in der politischen Diskussion zur Infektionslage fast ausschließlich um den Herbst gehe und nicht darum, wie Risikogruppen auch im Sommer geschützt werden können. Doch einschneidende, politisch verordnete Vorgaben sind gar nicht ihr größtes Anliegen. "Wir wünschen uns vor allem Rücksicht", sagt sie. Ein einfaches Beispiel: mit Erkältungssymptomen nicht zur Arbeit oder in die Schule zu gehen, um andere nicht zu gefährden.
Dafür sei auch ein größeres Bewusstsein in der Gesellschaft nötig, denn vielen Menschen, wie ihrer Tochter, sehe man die Vorerkrankung nicht an, sagt Henner. Um dieses Bewusstsein zu schaffen, müsse nicht zuletzt mehr über chronische Krankheiten aufgeklärt werden: "Es ist falsch zu denken, dass sich vulnerable Gruppen nur in Kliniken oder Heimen aufhalten. Wir nehmen ebenso am gesellschaftlichen Leben teil."