Modell in Wutöschingen Eine Gemeinschaftsschule für das freie Lernen
Kein Frontalunterricht, kein Stundenplan, keine Klassenzimmer - in der Alemannenschule läuft alles anders. Hier organisieren sich die Schülerinnen und Schüler selbst. Sieht so die Schule der Zukunft aus?
"Ich wünsch' euch einen wunderschönen guten Morgen! Schön, dass ihr heute da seid." Die Mathelehrerin begrüßt mit einem Tablet in der Hand die Schülerinnen und Schüler, die alle ebenfalls ein Tablet vor sich haben. Im ersten Moment sieht es aus wie eine normale Mathestunde, doch in der Alemannenschule im baden-württembergischen Wutöschingen ist nichts wie in einer gewöhnlichen Schule. Es ist eine Gemeinschaftsschule mit Haupt-, Real- und Gymnasialschülern, die zusammen und frei lernen.
Die Mathestunde heißt hier Input-Stunde - und die gibt es für jedes Hauptfach nur einmal pro Woche. Ansonsten lernen die Schülerinnen und Schüler selbständig.
So wie die 16-jährige Wiktoria Duzinska. Sie ist in der neunten Klasse und will ihren Hauptschulabschluss machen. Gerade überprüft sie, ob sie ihre Matheaufgaben richtig gelöst hat und erklärt, sie sei sehr zufrieden mit ihrem Ergebnis, auch wenn Fehler dabei seien. "Es ist gut, wenn man Fehler macht. Man kann sie verbessern und versteht es dann auch besser."
Kein Stundenplan, kein Klassenzimmer
Wiktoria schaut auf ihrem Tablet nach, was sie sich heute noch vorgenommen hat. Einen Stundenplan gibt es an der Alemannenschule nicht. Sie teilt sich selbst ein, was sie lernen möchte - und wann.
Nach der Input-Stunde will sie Mathe weiterlernen. Dafür geht sie in das Lernatelier, ein großer Raum mit vielen Lernecken. Sie geht eine kleine Leiter hinauf in die zweite Etage, ins Baumhaus, wie das hier heißt. Dort hat sie ihren festen Platz mit einen Schreibtisch und einem Schrank. Alle wichtigen Lernmaterialien sind auf dem Tablet. Das ist hier das wichtigste Werkzeug.
Und mit diesem sitzen die Schülerinnen und Schüler hier konzentriert und es ist ganz still. Es wird nur geflüstert und alle halten sich daran. Die Lehrkräfte heißen Lernbegleiter oder Coach. Ihre Schreibtische stehen in der Mitte des Lernateliers. Sie sind da und helfen weiter, wenn die Schülerinnen und Schüler Fragen haben.
Coaching-Stunde für den Wochenplan
Ganz wichtig ist hier die Coaching-Stunde. Die ist einmal pro Woche. Wiktoria hat sie bei ihrer Lernbegleiterin Maria Schedler. Bei ihr holt sie sich Ratschläge und Tipps ab, teilt ihre Woche ein. Auch die Prüfungen legen die Schülerinnen und Schüler selbst fest. Sie schreiben sie dann, wenn sie sich gut vorbereitet fühlen.
Lernbegleiterin Schedler macht Wiktoria Vorschläge, entscheiden kann sie aber selbst, was sie davon macht. Schedler ist überzeugt, dass dieses Konzept auch in Brennpunktbezirken funktionieren würde - gerade durch die Beziehung, die die Lernbegleiter zu den Schülerinnen und Schülern haben. "Und wir haben hier sehr wohl auch Brennpunktschüler. Also so ist es nicht, dass hier eine heile Welt herrscht, gar nicht."
Im Lernatelier arbeiten die Schülerinnen und Schüler der Alemannenschule eigenständig.
"Unterricht hält vom Lernen ab"
Schulleiter Stefan Ruppaner hat die Schule zur Gemeinschaftsschule umgestaltet, in der alle zusammen und frei lernen. Er ist überzeugt, dass der Unterricht vom Lernen nur abhält. Er läuft durch die Räume, bleibt hier und da stehen, macht ein Mathespiel mit oder beantwortet eine Frage. Überall sind Tische, Stehtische, Sofas, Sitzsäcke, auf denen die Schülerinnen und Schüler mit dem Tablet sitzen oder liegen. Mal konzentriert versunken, mal im Austausch miteinander.
"Hier sind jetzt Fünft- bis Zehntklässler gemischt", sagt Ruppaner. "Es gibt Studien, nach denen die Kinder bis 13 Jahre am besten im Liegen, am zweitbesten im Stehen, am drittbesten im Sitzen lernen und am allerbesten, wenn sie abwechseln können. Und das ist bei uns der Fall."
Frei einteilen, was man lernen möchte
Er läuft an einer Gruppe Jungen vorbei. Sie sitzen gemeinsam in einer Sofaecke und bereiten eine Präsentation zum Thema Mikroplastik vor. Luis Puskaric ist 16 Jahre und kann sich nicht mehr vorstellen, auf eine andere Schule zu gehen. "Früher saß ich 45 Minuten in einer Klasse und dachte nur: Wann geht der Unterricht endlich vorbei. Hier kann ich sagen: Ich kann das Thema, also hake ich es ab und schreibe heute die Klassenarbeit. Warum noch warten?"
Sein Mitschüler Nevio Franke will hier sein Abitur machen. Zuvor war er auf zwei anderen Schulen. An der Alemanneschule habe er sich verbessert, erzählt er. Die Atmosphäre sei eine andere. "Hier kann man sich frei einteilen, was man lernen möchte und konzentriert sich eben auf das, was man noch nicht kann."
Eine Gruppe Schüler arbeitet gemeinsam zum Thema Mikroplastik.
Wie erfolgreich ist das Konzept?
Eines wird Schulleiter Ruppaner ständig gefragt: Ist dieses Konzept wirklich erfolgreich? Er zeigt Statistiken und Grafiken aus der VERA-Vergleichsstudie in Baden-Württemberg, so etwas ähnliches wie PISA auf Ebene der Bundesländer. Mathe, Lesen, Schreiben - überall schneidet die Alemannenschule im Vergleich zu den Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg am besten ab.
"Unsere Schule hat weitaus überdurchschnittliche Leistungen", sagt Ruppaner. "Das gilt für alle Bereiche. Das Ziel war eigentlich, dass wir eine Situation schaffen, in der jeder gerne in die Schule geht. Und dabei kommen dann gute Leistungen raus."
Und noch etwas ist für ihn ganz wichtig: Wer so ein Konzept woanders umsetzen wolle, werde nicht am Geld scheitern, meint Ruppaner. Die Alemannenschule sei eine staatliche Schule und finanziert wie jede andere im Land auch.
Man lernt Eigenverantwortung
Wiktoria hat heute noch einen Gelingensnachweis in dem Fach Alltagskultur, Ernährung und Soziales geschrieben, so heißen hier die Klassenarbeiten. Sie hat ein gutes Gefühl.
Seit fast fünf Jahren ist sie nun in der Alemannenschule. Zurück auf eine andere Schule kann auch sie sich nicht vorstellen - trotz all der Verantwortung, die sie hier haben. "Das ist sehr viel Verantwortung. Aber wenn man auf diese Schule kommt, dann lernt man das. Ich meine, wir werden erwachsen und irgendwann brauchen wir diese Verantwortung auch."