Eine Lehrerin schreibt im Mathematikunterricht einer achten Klasse an eine Schultafel.
interview

Ergebnis der PISA-Studie "Der Blick auf die Schwachen kommt zu kurz"

Stand: 05.12.2023 14:50 Uhr

Das schlechte Abschneiden bei der PISA-Studie zeigt grundsätzliche Probleme deutscher Schulen auf, sagt der Bildungsexperte Köller. Es brauche kluge Angebote, schwächere Schülerinnen und Schüler systematisch zu fördern.

tagesschau.de: Zieht sich das schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler durch die gesamte neue PISA-Studie?

Olaf Köller: Ja, wir müssen leider feststellen, dass sowohl im Lesen als auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften deutliche Verluste im Vergleich zu 2018 sichtbar geworden sind. Die Verluste in Deutschland sind auch größer als im OECD-Mittel. Weltweit haben die Länder insgesamt verloren. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Mathematik haben wir im OECD-Mittel 17 Punkte verloren, in Deutschland 25.

Bei uns setzen sich offensichtlich auf die Folgen der Pandemie noch mehrere weitere Effekte drauf; sicherlich auch zum Teil die Geflüchteten, bei denen es nicht gelungen ist, sie zu integrieren. Aber ich glaube, wir haben auch mittlerweile ein erhebliches Unterrichtsqualitätsproblem.

Olaf Köller, Bildungsforscher Kieler Leibniz-Institut IPN, zum schlechten Abschneiden Deutschlands bei PISA-Studie

tagesschau24, 05.12.2023 11:00 Uhr

Vorbild Estland

tagesschau.de: Was machen andere Länder besser in ihrer Bildungspolitik?

Köller: Wir können seit 2012 beobachten, dass sich die Schülerschaft in Deutschland deutlich verändert. Wir haben mehr Zuwanderung als andere Länder auf der Welt. Wir haben 2011 schon aus der Bildungsforschung heraus darauf hingewiesen, dass wir viel mehr tun müssen, um junge Menschen, die in ungünstigen Umwelten aufwachsen, besser zu fördern. Es war schon 2011 der Ruf laut: Wir müssen in Zukunft mehr Förderung in die Schulen und auch schon in die Kitas bringen.

Dieser Ruf ist damals leider verhallt. Die Anstrengungen sind nicht erhöht worden, sodass wir heute vor der Situation stehen - stärker möglicherweise auch als in vielen anderen Ländern -, dass wir nicht hinreichende Förderangebote für die besonders benachteiligten Schülerinnen und Schüler in Deutschland anbieten.

Zur Person

Olaf Köller ist Psychologe und Bildungsforscher am Kieler Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN).

tagesschau.de: Warum gelingt es Deutschland nicht, sich etwas vom Erfolgsrezept von Ländern wie Estland abzugucken?

Köller: Was wir hier sehr deutlich gesehen haben: Wie man die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht trägt, wie man sie auch ihre Smartphones, ihre digitalen Endgeräte benutzen lässt. Wir tun uns immer noch schwer damit, moderne didaktische Konzepte in den Unterricht zu bringen. Bei uns gibt es immer noch die Diskussion, Smartphones zu verbieten. Wir tun uns auch schwer damit, uns auf die Interessen einzustellen, die heutige Schülerinnen und Schüler mit in die Schule bringen.

Man hat den Eindruck, dass wir an den Interessen der Schülerinnen und Schüler vorbei unterrichten. Wobei das Beispiel Estland uns auch zeigt, wie man dort mit schwachen Schülerinnen und Schülern umgeht. Man nimmt sie raus, man fördert sie dann besonders. Auch das kommt bei uns zu kurz: Der Blick auf die schwachen Schülerinnen und Schüler und dann wirklich kluge Angebote, um sie systematisch zu fördern.

Lehrkräftemangel ist kein deutsches Phänomen

tagesschau.de: Was vielen Eltern bestimmt hierzulande auffällt, ist der massive Lehrermangel und der damit einhergehende Unterrichtsausfall. Hat das auch etwas mit dem Ergebnis zu tun?

Köller: Lehrkräftemangel ist kein deutsches Phänomen, sondern ein europaweites, fast ein weltweites Phänomen, was in vielen Ländern auch demografische Gründe hat. Ich denke mal, davon sind auch Länder in Skandinavien betroffen, davon sind fast alle europäischen Länder betroffen.

Aber wir haben darüber hinaus ein Problem, dass viele der Lehrerinnen und Lehrer nicht wirklich für eine sich sehr stark verändernde Schülerschaft qualifiziert sind. Das zeigen insbesondere die Ergebnisse im nicht-gymnasialen Bereich, wo es den Kolleginnen und Kollegen sehr schwerfällt, insbesondere, wenn sie keine Lehrkraft-Ausbildung haben, mit den besonders schwachen Schülerinnen und Schülern zu arbeiten.

"Es fehlt Bewusstsein für die Größe des Problems"

tagesschau.de: Bildungschancen und die soziale Herkunft hängen in Deutschland stark zusammenhängen. Wir kennen diese Problematik jetzt seit mehr als 25 Jahren. Warum schaffen wir es nicht, diese Hürde nachhaltig zu beseitigen?

Köller: Ich glaube, es fehlt immer noch das Bewusstsein für die Größe des Problems. Beispiel Kita: Wir wissen, dass wir viele Kinder bereits vor der Schule verlieren. Wir haben Kinder, die gegenüber privilegierten Kindern einen Rückstand von zwei Lernjahren haben, wenn sie eingeschult werden. Das heißt, wir müssen auch die Kita zum Lernort machen.

Wir müssen uns bewusst sein, wenn wir Schülerinnen und Schüler in der Grundschule haben, dass wir einen Großteil von ihnen zunächst klug diagnostizieren müssen: Mit welchen Rückständen kommen sie in die Schule? Und dann müssen wir diese Schülerinnen und Schüler systematisch unterstützen. Das setzt sich fort, wenn sie übertreten in die Sekundarstufe eins, wenn sie in den nicht-gymnasialen Bereich kommen.

Wir müssen die Schulen, die Lehrkräfte sensibilisieren, eine kluge Diagnostik zu machen, um wirklich zu sehen, wo die Schülerinnen und Schüler stehen. Und dann passgenaue Förderangebote machen, damit diese Schülerinnen und Schüler überhaupt in die Lage versetzt werden, dann auch in allen Fächern anschlussfähig zu lernen.

tagesschau.de: Aber wir hören von Bildungspolitikern auch immer wieder: "Ja, wir haben das Problem erkannt und wir gehen diesen Weg." Dann sagt wieder jemand in einem anderen Bundesland "Nein, wir gehen lieber diesen Weg." Führen wir zu viele ideologische Debatten?

Köller: Wir hoffen jetzt natürlich alle auf das Startchancen-Programm der Bundesregierung, das im nächsten Jahr starten soll. Vermutlich zunächst mit 1.000 Schulen, sogenannten Brennpunktschulen. Wir hoffen natürlich, dass es dann einen bundesländerübergreifenden Konsens geben wird, etwas für die Schulen zu tun, gerade für die Brennpunktschulen.

Was mir aber wichtig ist: Man muss mit solchen Programmen - wie auch dem Startchancen-Programm, in das ja Milliarden fließen werden - darauf achten, dass man auf Seiten der Schülerinnen und Schüler die Lernleistung und auch das, was wir Selbstregulation nennen, wirklich fördert. Also dass die Schülerinnen und Schüler zum einen Basiskompetenzen erwerben - Lesen, Schreiben, Rechnen. Sie müssen aber auch lernen, sich im Lernprozess selbst zu regulieren, damit sie selbstständig arbeiten können.

Es ist also wichtig, dass das Geld auch in solchen Programmen ankommt, dass wir den Schülerinnen und Schülern im Lernen etwas Gutes tun, dass wir sie beim Lernen unterstützen und dann auch höhere Bildungserträge erreichen.

Deutschlands Schüler schneiden bei PISA-Studie so schlecht ab wie nie zuvor

O. Hilgert / I. Handrich, RBB, tagesthemen, 05.12.2023 21:35 Uhr

tagesschau.de: Wir reden ja darüber, dass es einen drastischen Leistungsabfall international gibt. Könnte es sein, dass viele in dieser westlichen Gesellschaft auch so satt sind, dass sie sich nicht mehr anstrengen möchten, dass sich das vielleicht auch auf die Jugend überträgt?

Köller: Dafür spricht manches. Wir sehen ja vor allem auch den dramatischen Leistungsrückgang am Gymnasium, und das Gymnasium trägt ja jetzt nicht die Last der Integration der zugewanderten Kinder. Das Gymnasium trägt auch nicht die Inklusion der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, sondern es ist eigentlich eine Schülerschaft, die vergleichsweise einfach zu unterrichten ist. Und dennoch gehen die Leistungen dramatisch zurück.

Es mag schon sein, dass Schülerinnen und Schüler satt sind. Es kann auch sein, dass sich der Unterricht noch nicht darauf eingestellt hat, wie wir diese Schülerinnen und Schüler dort gut erreichen können. Der jetzige Mathematikunterricht scheint es zumindest nicht zu schaffen, diese, wie Sie sagen, satte Generation möglicherweise zu erreichen.

Das Gespräch führte Gerrit Derkowksi für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version redigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 05. Dezember 2023 um 11:00 Uhr.