Antisemitismus an Universitäten "Wem habe ich erzählt, dass ich Jude bin?"
Jüdische Studierende und Lehrkräfte erleben seit dem Kriegsausbruch im Nahen Osten eine Welle an Antisemitismus. In Nordrhein-Westfalen gibt es nun eine Anlaufstelle für Betroffene. Ein Modell für die Zukunft?
Als die Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel und 1.139 Menschen ermordete, haben sich in Deutschland viele jüdische Studierende eine bedrückende Frage gestellt: "Wem habe ich erzählt, dass ich Jude bin?". Dazu zählen viele Freunde von Hanna Veiler. Sie ist Mitte zwanzig und macht gerade ihren Bachelor in Tübingen.
Als Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD) spricht Veiler regelmäßig mit jungen Jüdinnen und Juden. Fast alle fürchten sich seit dem Ausbruch des Kriegs im Nahen Osten vor Angriffen im Alltag. "Es gab schon lange ein antisemitisches Grundrauschen in Deutschland", sagt Veiler. "Aber das, was wir jetzt an Einschüchterungen, Beleidigungen und körperlichen Angriffen erleben, ist eine antisemitische Welle, die meine Generation in Deutschland noch nicht erlebt hat."
Rasanter Anstieg antisemitischer Vorfälle
Veilers subjektives Empfinden lässt sich auch anhand von Zahlen festmachen. Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentieren seit dem Terrorangriff der Hamas einen rasanten Anstieg an antisemitischen Vorfällen. "Der 7. Oktober 2023 stellt eine Zäsur für jüdisches Leben in Deutschland dar", erklärt der Leiter von RIAS NRW, Jörg Rensmann.
Vor allem im akademischen Umfeld habe sich die Lage seitdem dramatisch zugespitzt: "An nordrhein-westfälischen Hochschulen haben sich die Meldungen über antisemitische Vorfälle dieses Jahr im Vergleich zum vergangenen Jahr schon jetzt mehr als verdreifacht", sagt Rensmann. Zu den Fällen zählen hauptsächlich Versammlungen mit antisemitischen Inhalten, aber auch direkte Bedrohungen und körperliche Angriffe.
Beratungsstelle hilft juristisch und psychologisch
Damit sich Betroffene von Antisemitismus in Zukunft besser Hilfe suchen können, hat Nordrhein-Westfalen mit Unterstützung der RIAS NRW eine zentrale Anlaufstelle für alle Hochschulen in NRW eingerichtet. Stellenleiter Andreas Stahl kümmert sich ab sofort hauptberuflich um jeden Fall. Stahl forscht seit Jahren zum Themenfeld Antisemitismus und weiß um die Bedeutung staatlicher Unterstützung: "Es ist alleine schon ein wichtiges Zeichen an alle Jüdinnen und Juden in Deutschland, dass so etwas gesellschaftlich mitgetragen wird. Darüber hinaus können wir dadurch jetzt konkret weiterhelfen."
Stahl bietet allen Betroffenen eine juristische Erstberatung an - auch im Hinblick auf mögliche strafrechtliche Relevanz. Zudem besteht auch auf psychologischer Ebene Hilfebedarf. "Das darf man nicht unterschätzen. Einige Betroffene sind seit Monaten mental am Limit", sagt Stahl.
Für viele Opfer antisemitischer Gewalt sei es deswegen schon mal eine große Hilfe, gehört und ernst genommen zu werden. Danach kann er eigene Unterstützung anbieten oder bei Bedarf Kontakt zu spezialisierten Beratungsstellen herstellen.
Neue Erkenntnisse für strukturelle Lösungen
Außerdem wird Stahl alle Fälle dokumentieren und kategorisieren. Ein weiteres Ziel der Anlaufstelle ist es nämlich, hochschulübergreifende Erkenntnisse zu sammeln. Auf dieser Grundlage will er dann strukturelle Lösungen für das Antisemitismus-Problem an den Hochschulen finden.
Bisher wurde diese Arbeit von den jeweiligen Antisemitismus- und Antidiskriminierungsbeauftragen der einzelnen Hochschulen ausgeübt - und das meist im Rahmen ihrer allgemeinen akademischen Tätigkeit. "Das war in den letzten Monaten ehrlich gesagt ein 200-Prozent-Job", erklärt der Antisemitismus-Beauftragte der Uni Münster, Ludger Hiepel.
Nicht nur deswegen begrüßt Hiepel die zentrale Anlaufstelle, an deren Aufbau er maßgeblich beteiligt war. "Man war als Beauftragter mit den Problemen schon sehr auf sich alleine gestellt. Aber ich bin mir sicher, dass viele Probleme mit Antisemitismus an den verschiedenen Hochschulen sehr ähnlich sind. Wenn wir eine strukturelle Lösung finden, kann man sie sehr wahrscheinlich auch gut an anderen Hochschulen anwenden. Die Vernetzung wird uns dabei helfen."
Ein Modell für die Zukunft?
JSUD-Präsidentin Veiler findet die Beratungsstelle wichtig. Sie betont, dass auch vermeintlich harmlose Vorfälle wie Kritzeleien an Uni-Toiletten bewertet werden müssen. "Wir sprechen immer nur über antisemitische Kundgebungen oder Gewalt. Worüber wir nur selten sprechen, ist, dass es im Kleinen anfängt", sagt Veiler. "Wenn junge Jüdinnen und Juden den Uni-Campus betreten, sehen sie sofort ausgehängte Poster mit Karten vom Nahen Osten, wo Israel nicht existiert. Sie sehen 'Yallah Intifada'-Parolen auf den Wänden, durchgestrichene Davidsterne auf den Vorlesungsbänken und Drohungen auf den Toiletten-Türen."
Diese Einschüchterungen verursachen laut Veiler ein Klima der Angst. Vor allem bei denen, die sich offen gegen Antisemitismus einsetzen. "An mehreren Universitäten wurde sich organisiert, um in Laufgruppen zur Mensa, dem Hörsaal oder zur Toilette zu gehen. Einige haben zu große Angst, alleine auf dem Campus unterwegs zu sein", sagt Veiler. Viele meiden den Uni-Campus während der vorlesungsfreien Zeit komplett. Im Oktober beginnt das neue Semester. Dann erlebt das NRW-Modell seine erste Bewährungsprobe. Veiler wünscht es sich schon jetzt in allen Bundesländern.