Menschen mit palästinensischen Flaggen nehmen an der Demonstration zum Nakba-Gedenktag in Berlin teil.

"From the river to the sea" Ist die Parole zwangsläufig strafbar?

Stand: 01.07.2024 14:50 Uhr

Seit dem 7. Oktober haben antisemitische Vorfälle in Deutschland stark zugenommen. Doch nicht hinter jedem Fall steckt eine strafbare Handlung. Auch bei bloßem Verdacht kann es zu Durchsuchungen kommen - und sogar zur Abschiebung.

Von Iris Sayram, ARD-Hauptstadtstudio

Berlin Mitte Mai gegen 6 Uhr am Morgen. Ein lautes andauerndes "Bollern" gegen die Wohnungstür holt Studentin Alina T. aus dem Schlaf. Die junge Frau weiß im ersten Moment nicht, was los ist. "Der DHL-Mann? - Nein, kann nicht sein!", sie ist völlig verwirrt.

Als ihr Ehemann die Tür öffnet, "stürmen" mehrere LKA-Beamte, zwei Mitarbeiter des Bezirksamts und auch das SEK an ihm vorbei in die Wohnung. Verdutzt schaut er auf den Durchsuchungsbeschluss.

Alina T., derweil noch im Schlafzimmer, versucht die Türe zu schließen, die junge Frau ist halbnackt. Doch zwei weibliche Beamte halten sie auf und betreten das Schlafzimmer, setzen Alina T. fest, die vor Angst zittert. So schildert sie den Moment der Hausdurchsuchung gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio.

Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole?

Hintergrund war ein Facebook-Eintrag im Profil der Studentin: "From the river to the sea, Palestine will be free". Als ihr das mitgeteilt wird, habe Alina T. zunächst auflachen müssen - vor Erleichterung. Denn nun sei ja klar, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln könne.

"Es ist doch offensichtlich, was der Spruch bedeutet: Vom Fluss bis zum Meer frei von einer israelischen Besatzung! Ein freies Land halt, neben Israel. Wie kann man etwas anderes denken?", fragt die junge Frau ungläubig, die noch nie vorher etwas mit der Polizei zu tun hatte.

Sie ist auch jetzt, Ende Juni, verängstigt - denn das "Missverständnis" hat sich bislang nicht aufgelöst. Ein Strafverfahren wegen der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole läuft. Ihre Identität möchte sie schützen, ihren Namen haben wir daher geändert.

Hohe Zahl antisemitischer Delikte

Alina T. ist ein Fall in der Statistik, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser regelmäßig als Beleg der massiv angestiegenen Zahl antisemitischer Delikte heranzieht. Für das Jahr 2023 sind im Verfassungsschutzbericht 5.164 Delikte in dieser Kategorie gelistet. Das Gros entfällt auf die Unterkategorie "rechts" mit mehr als 3.000 Vorfällen. 531 werden einer "religiösen Ideologie" zugeordnet, 373 Delikte sind unter "Sonstiges" gelistet.

Wie häufig sich die Parole "From the river to the sea - Palestine will be free" in dieser Statistik niederschlägt, kann das Bundesinnenministerium auf Anfrage nicht beziffern. Bei einer Abfrage verschiedener Polizeidienststellen aus dem Herbst des Jahres 2023 durch das ARD-Hauptstadtstudio ist aber immer wieder dieser Slogan gefallen, der strafrechtliche Ermittlungen ausgelöst hat und auch als Grund zum Auflösen von Versammlungen von den Behörden herangezogen wurde.

"Allein dieser Slogan hat in wenigen Monaten zu einer großen Anzahl von Ermittlungsverfahren geführt. Ich gehe bundesweit von einer hohen dreistelligen, wenn nicht gar vierstelligen Zahl seit dem 7. Oktober 2023 aus. Wegen ihm werden Wohnungen durchsucht, Demonstrationen verboten und immer wieder Menschen auf Versammlungen festgenommen", sagt Rechtsanwalt Benjamin Düsberg, der auch Alina T. vertritt, dem ARD-Hauptstadtstudio.

Parole per Verfügung verboten?

Maßgeblich für eine Strafbarkeit ist bei solchen Delikten grundsätzlich der sogenannte objektive Empfängerhorizont - also wie ein Unbeteiligter eine solche Äußerung versteht. Als Auslöschung Israels oder Befreiung Palästinas von der israelischen Besatzung? Angelehnt daran sei der Ausspruch schlicht nicht eindeutig, sagte Strafrechtsexperte Thomas Fischer der Legal Tribune Online bereits Mitte Oktober 2023. Es müssten weitere Elemente dazukommen.

Dass der Ausspruch ohne weitere Umstände dennoch zu einer Strafbarkeit führen soll, liegt an einer Verfügung des Bundesinnenministeriums von Anfang November. Danach wird der Ausspruch grundsätzlich der Hamas zugeordnet. Wer ihn verwendet, soll demnach automatisch das Kennzeichen einer Terrororganisation verwenden.

Dieser Logik widersprach das Landgericht Mannheim Mitte Juni in zweiter und letzter Instanz. Aus Sicht der Kammer bleibe der Ausspruch "allgemein gehalten" und habe eine komplexe Geschichte. Es lasse sich aus ihm nicht entnehmen, auf welche Weise das historische Palästina befreit werden solle. Zudem "ist eine Zueigenmachung der Parole durch die Hamas zu verneinen". Wörtlich sei sie kein Bestandteil der Hamas-Charta.

Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens

Weiter führt das Gericht aus: "Inwieweit die Hamas den Slogan in Gänze verwendet und sich zu eigen gemacht haben soll, ist in den Ausführungen im Bericht Lagebild Antisemitismus des Bundesamts für Verfassungsschutz nicht dargetan, sondern wird dort lediglich behauptet."

Das Gericht stellt zudem klar, dass das Innenministerium gar nicht verbindlich definieren kann, ob es sich um ein Kennzeichen der Hamas handelt. Dass das Ministerium den bloßen Teil der Parole "From the river to the sea" in seiner Verbotsverfügung vom 3. November als Kennzeichen der Hamas eingeordnet habe, führe daher nicht zur Strafbarkeit der Parole.

Der Verbotsverfügung komme, so das Gericht, "keine konstitutive Wirkung zu, wobei zudem wegen der Anknüpfung des Verbots der spezifischen Parole an eine politische Meinung bereits erhebliche Zweifel erhoben worden sind, ob das Verbot mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar ist und nicht auch gegen die staatliche Neutralitätspflicht und das Diskriminierungsverbot verstößt".

Durchsuchungen und erleichterte Abschiebungen

Die Entscheidung des Landgerichts Mannheim "sollte alljenigen als eine Mahnung gereichen, die im politischen Diskurs allzu vorschnell eine Strafbarkeit bei Verwendung des Slogans annehmen", schreibt Kai Ambos in der ersten Juli-Ausgabe der JuristenZeitung.

Doch das lehnt das Bundesinnenministerium weiterhin ab. Auf Nachfrage des ARD-Hauptstadtstudios teilt das Ministerium mit, dass es sich an die Entscheidung nicht gebunden fühlt. Ambos nennt das "kontrafaktisch" und "enttäuschend". "Statt sich mit der gut recherchierten Begründung der Kammer auseinanderzusetzen, bezieht sich das Ministerium auf diffuse Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden", sagt er.

Durchsuchungen wie bei Alina T. dürften damit nicht als Ausnahme gelten. Doch auch weitere Konsequenzen könnten sich abzeichnen, die über eine Hausdurchsuchung noch hinausgehen. Das Ministerium plant, Abschiebungen zu erleichtern, sollte im Internet "Terror verherrlicht werden" - selbst ohne entsprechendes Gerichtsurteil.