Nach Treffen in Potsdam Millionen Deutsche haben Angst vor Abschiebungen
Nach dem Treffen von radikalen Rechten in Potsdam bereiten Pläne zu Massenabschiebungen vielen Menschen in Deutschland große Angst. Das hat eine repräsentative Umfrage im Auftrag des ARD-Magazins Panorama ergeben.
2022 haben 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gelebt. Das entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 28,7 Prozent. Fast genau die Hälfte hat die deutsche Staatsangehörigkeit, rund zwölf Millionen Menschen. Ein Großteil von ihnen ist bereits in Deutschland geboren.
Bei dem Treffen in Potsdam, an dem auch AfD-Politiker und Mitglieder der WerteUnion teilnahmen, ging es auch um sie: Die dort diskutierten Pläne, massenhaft Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland zu verdrängen, betrafen Informationen des Recherchenetzwerks Correctiv zufolge auch "nicht-assimilierte" Ausländer. Davon könnten laut Correctiv auch Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft betroffen sein.
"Ganz klar verfassungswidrig"
Dabei ist die deutsche Staatsangehörigkeit im Grundgesetz besonders geschützt. So heißt es im Artikel 16: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden."
Diese Bestimmung ist unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Zwangsausbürgerungspraxis in das Grundgesetz eingefügt worden. Sie gelte im Kern auch für Menschen mit einer doppelten Staatsangehörigkeit, betont der Verfassungsrechtler Ulrich Karpenstein, Vizepräsident des Deutschen Anwaltsvereins, im Interview mit Panorama.
Das Grundgesetz ermöglicht zwar eine Ausnahme bei Doppelstaatlern, sieht aber für den Entzug der Staatsangehörigkeit bei ihnen nur sehr wenige Möglichkeiten, beispielsweise wenn es zu Terror-Handlungen im Ausland kommt. Selbst wenn man der Liste eine weitere Möglichkeit hinzufügen würde, dürfe sie auf keinen Fall an die Hautfarbe geknüpft werden. "Sie darf auch nicht an die Herkunft geknüpft werden, sie darf auch nicht an eine wie auch immer zu definierende Assimilation geknüpft werden", erläutert Karpenstein.
Das wäre ganz klar verfassungswidrig. "Da müsste man sich über das Grundgesetz und auch internationale Menschenrechtskonventionen hinwegsetzen", so Karpenstein. Das setze einen Staatsstreich voraus.
Viele Deutsche haben Angst
Dennoch - oder gerade deshalb - machen die in Potsdam diskutierten "Massenabschiebungspläne" vielen Deutschen Angst. In einer repräsentativen Umfrage von infratest dimap im Auftrag von Panorama sagen 51 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund, dass ihnen die Pläne große oder sehr große Angst bereiteten. Genauso sehen es 48 Prozent der Befragten ohne ausländische Wurzeln. Im Westen ist die Angst etwas größer (49 Prozent groß / sehr groß) als im Osten (42 Prozent).
In den Altersgruppen gibt es keine signifikanten Unterschiede, nur bei den 35- bis 49-Jährigen ist die Angst mit 41 Prozent etwas geringer. Die Angst ist bei den Anhängern der Grünen und der SPD mit 69 beziehungsweise 61 Prozent besonders ausgeprägt. Von den AfD-Anhängern haben nur acht Prozent Angst, 76 Prozent hingegen antworteten, ihre Angst sei weniger groß oder nicht vorhanden.
Die AfD distanziert sich
Die AfD hat sich von der Zusammenkunft in Potsdam distanziert und von einem privaten Treffen gesprochen. Ihr Konzept der sogenannten "Remigration" umfasse alle Maßnahmen und Anreize zu einer rechtsstaatlichen und gesetzeskonformen Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer in ihre Heimat, erklärte die Partei jüngst in einem Positionspapier: "Verfassungswidrige Forderungen wie (…) die Abschiebung deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund stoßen auf unsere entschiedene Ablehnung."
Die AfD lehnt Abschiebungen von Deutschen also ab? Noch am Vormittag des 10. Januar 2024, kurz nachdem die Inhalte des Treffens in Potsdam durch "Correctiv" öffentlich geworden waren, - las sich das in einem Posting bei X noch etwas anders: Da forderte die AfD, die Hürden zum Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft zu senken und erklärte, dass man nicht nur Ausländer konsequent abschieben, "sondern auch Kriminellen, Gefährdern, Terroristen und Vergewaltigern den Pass entziehen" wolle.
"Der Automatismus, Straftäter deshalb nicht abzuschieben, weil sie eben auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ist aufzuheben", wird die AfD-Bundessprecherin Alice Weidel zitiert.
Nach geltender Rechtslage nicht möglich
Dies legt zumindest den Schluss nahe, dass es das Ziel der AfD ist, im Zweifel auch Deutsche mit Migrationshintergrund auszubürgern. Nach geltender Rechtslage sind solche Abschiebungen nicht möglich. Verfassungsrechtler wie Ulrich Karpenstein halten auch eine entsprechende Gesetzesänderung vor dem Hintergrund von Artikel 16 Grundgesetz für verfassungswidrig.
Im Interview mit Panorama erklärte der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer dazu: "Wir stehen als Alternative für Deutschland ganz klar zum Grundgesetz, was nicht heißt, dass wir nicht auch Gesetze verschärfen, da, wo es erforderlich ist, wenn wir in Regierungsverantwortung sind."
Diese Verschärfung werde durch den Souverän beschlossen, im Deutschen Bundestag: "Da wird man verhandeln müssen, was für uns erträglich ist und was eben nicht mehr. Und an welcher Stelle man die Hürden senkt, um die Rücknahme von Einbürgerungen zu ermöglichen."
AfD-Stammtisch in Gera gibt einen Eindruck
Einen Eindruck, was für die AfD "erträglich" ist, bekam man im Dezember beim AfD-Stammtisch in Gera. Dort stellte ein Besucher dem thüringischen AfD-Landeschef Björn Höcke die Frage, was denn eigentlich mit den Millionen sei "ich nenne sie jetzt trotzdem noch Ausländer, die aber längst den deutschen Pass haben, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben".
Höcke antwortete im Verlauf unter anderem: "Wir werden auch ohne Probleme mit 20, 30 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben können, das halte ich für ökologisch sogar sinnvoll tatsächlich."
Damit nannte er ziemlich genau den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland - 28,7 Prozent -, also auch die mit deutschem Pass. Auf Panorama-Anfrage teilt Höcke mit, da sei er falsch verstanden worden. Die Zahl ergebe sich aus der demografischen Katastrophe, in der sich Deutschland befinde.
Das Umfrageinstitut Infratest dimap befragte im Auftrag von Panorama vom 29. bis 31. Januar insgesamt 1.303 zufällig ausgesuchte, wahlberechtigte Personen ab 18 Jahren in Deutschland. Die Fehlertoleranz beträgt zwischen zwei Prozentpunkten (bei 10 Prozent Anteilswert) und drei Prozentpunkten (bei 50 Prozent Anteilswert).
Anmerkung der Redaktion: Das OLG Hamburg hat mit Beschluss vom 23.07.2024 die Verbreitung einer Aussage des Beitrags zu einem bestimmten Diskussionsgegenstand des Treffens in Potsdam untersagt. Die Redaktion hat daraufhin den Text des Beitrags entsprechend geändert. Der NDR hat den Beschluss des OLG angefochten, das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.