Bericht zu Sozialmissbrauch durch EU-Ausländer Großer Popanz um kleines Problem?
Die Regierung hat ein Maßnahmenpaket gegen Sozialmissbrauch bei EU-Zuwanderern auf den Weg gebracht. Doch Zahlen über tatsächliche Fälle liegen kaum vor. Die Opposition wirft der Koalition daher blanken Populismus vor.
"Wer betrügt, der fliegt!" Mit dieser Parole hatte die Debatte um angeblichen Sozialversicherungsbetrug von Zuwanderern angeheizt. In einem Positionspapier schrieb die CSU von einem "fortgesetzten Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutszuwanderung". Monatelang beschäftigt sich dann auch die Große Koalition mit der angeblichen "Zuwanderung in die Sozialsysteme" beziehungsweise Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Ausländer.
Im Januar setzte die Bundesregierung einen Ausschuss ein und erteilte den Mitgliedern den Auftrag, ein Maßnahmenpaket zu erarbeiten. In dem Abschlussbericht mit dem Titel "Sozialzuwanderung aus Europa", der tagesschau.de vorliegt, haben Staatssekretäre nun Vorschläge vorgelegt, um möglichen Missbrauch von Sozialleistungen zu verhindern.
Befristete Einreisesperren
So wird unter anderem empfohlen, das Recht auf Freizügigkeit zu ändern, um Zuwanderer aus EU-Staaten künftig unter bestimmten Umständen mit befristeten Einreisesperren belegen zu können. Dies solle in Fällen von Rechtsmissbrauch oder Betrug im Bezug auf das Freizügigkeitsgesetz gelten. Auch sollen sich EU-Bürger demnach künftig nur noch sechs Monate in Deutschland aufhalten dürfen, um hier eine Arbeit zu suchen. Weitere Maßnahmen sollen den unberechtigten Bezug von Kindergeld verhindern. Um Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit zu bekämpfen, müssten zudem verschiedene Behörden künftig intensiver kooperieren.
Die Behörden sollen künftig enger kooperieren, um Schwarzarbeit zu bekämpfen.
Der Bericht stellt fest, dass einige wenige Kommunen, vor allem in Nordrhein-Westfalen, von einer stark erhöhten Zuwanderung betroffen seien. Diese sollen finanziell stärker entlastet werden, beispielsweise bei den Kosten für Unterkunft, Heizung oder Impfungen von Kindern.
Zu der Frage, wie viele Fälle von Sozialmissbrauch es durch EU-Ausländer überhaupt gebe, findet sich allerdings nur sehr wenig in dem Bericht. Vielmehr wird eingeräumt, dass das deutsche Recht bereits Leistungsausschlüsse vorsieht. So ist ein Aufnahmestaat in der EU gar nicht verpflichtet, während der ersten drei Monate einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren - außer an Arbeitnehmer, Selbstständige und deren Familienangehörige. Für Arbeitssuchende kann der Anspruch auf Sozialhilfe sogar für einen längeren Zeitraum als drei Monate ausgeschlossen werden.
Kaum Daten vorhanden
Bereits in den vergangenen Monaten war deutlich geworden, dass es offenkundig keinen massenhaften Missbrauch bei Sozialleistungen gab beziehungsweise keine entsprechenden Daten vorliegen. Die wenigen vorhandenen Informationen lassen eher den Schluss zu, dass kein massenhafter Missbrauch stattfindet. Aus einer Anfrage der Grünen in Bayern Anfang des Jahres geht hervor, dass es laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) in den vergangenen Jahren lediglich ein paar Verdachtsfälle auf Sozialbetrug durch Ausländer im Freistaat gegeben hatte.
Auch im Bund existieren keine Zahlen, die ein Massenphänomen beweisen. Auf eine Anfrage der Grünen räumte die Bundesregierung im Mai ein, dass es bundesweit lediglich einige Dutzend Verdachtsfälle gegeben habe. Die Grünen wollten aber auch wissen, wie viele Personen tatsächlich verurteilt wurden, doch hier lagen gar keine Erkenntnisse vor.
Die Linksfraktion hatte sich ebenfalls nach belastbaren Daten über Verstöße erkundigt. In ihrer Antwort teilte die Bundesregierung im Juni mit, sie verfüge über keine eigenen quantitativen Erkenntnisse zum Umfang der Täuschungshandlungen, verwies aber gleichzeitig auf "nicht unerhebliche Zahlen" beispielsweise bei mutmaßlichen Scheinehen.
Scharfe Kritik der Opposition
Die Opposition ist mit diesen Angaben wenig zufrieden. Die Grünen kritisierten den Bericht der Staatssekretäre daher scharf und bezeichneten ihre Vorschläge als "diffamierend und substanzlos". Zudem werde die Freizügigkeit in erster Linie als Problem behandelt, sagten die Grünen-Abgeordneten Volker Beck und Wolfgang Strengmann-Kuhn auf Anfrage von tagesschau.de. Sie betonten zudem, Sperren bei der Wiedereinreise seien rechtswidrig. Die Regierung reagiere ohnehin auf Probleme, die es so gar nicht gebe.
Auch die Linkspartei sieht sich in ihrer Einschätzung bestätigt, wonach eine massenhafte "Zuwanderung in die Sozialsysteme" gar nicht stattfinde - und erst recht kein massenhafter Betrug. Die Parole "Wer betrügt, der fliegt!" sei "bloßer Populismus und üble Diskriminierung", erklärte Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn. "Die Freizügigkeit in Europa, die Reise- und Bewegungsfreiheit, sie gelten für alle" und seien nicht verhandelbar. Die Stimmungsmache auf dem Niveau bayerischer Stammtische gegen Menschen aus Süd- und Südost-Europa müsse daher aufhören.
Auch aus der SPD kamen bereits kritische Töne zu den Plänen der Koalition. Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel schrieb auf Twitter, der Missbrauch von Sozialleistungen sei gar nicht belegt, dennoch wolle die Regierung Gesetze ändern.
"Freizügigkeit als hoher Wert"
Selbst in dem Bericht der Staatssekretäre wird angedeutet, dass das Problem des angeblichen Sozialmissbrauchs wohl nicht so akut ist, wie bisweilen dargestellt. So wird festgestellt, dass bei den Debatten in Deutschland Maßnahmen gegen mutmaßliche Sozialbetrüger eine "herausgehobene Rolle" spielten. Dies sei nicht überall so: In Staaten, die ebenfalls über einen "aufnahmefähigen Arbeitsmarkt" und "attraktive Sozialsysteme" verfügten, werde ein Zuzug aus anderen Mitgliedstaaten nicht generell als Problem wahrgenommen. Freizügigkeit werde "dort als hoher Wert angesehen, den es zu schützen gilt".
Außerdem betonen die Staatssekretäre, dass in vielen Herkunftsländern die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte kritisch gesehen werde. Diese Mitgliedstaaten verfolgten die Diskussion in Deutschland besonders aufmerksam, da sie mögliche Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts und eine Diskriminierung ihrer in Deutschland lebenden Staatsangehörigen befürchten.