Interview

Soziologe analysiert Diskriminierungsstudie Enttäuschte Erwartungen

Stand: 19.04.2016 15:48 Uhr

Erlebte Diskriminierung deckt sich nicht unbedingt mit tatsächlicher Diskriminierung. Darauf weist Soziologe Albert Scherr im Interview mit tagesschau.de hin und erklärt auch, warum die Erwartung der Betroffenen eine große Rolle spielt.

tagesschau.de: Laut Befragung der Antidiskriminierungsstelle erlebt jeder dritte Mensch in Deutschland Diskriminierung. Ist erlebte Diskriminierung auch tatsächliche Diskriminierung?

Albert Scherr: Erlebte Diskriminierung ist nicht einfach ein Abbild von tatsächlicher Diskriminierung. Verzerrungen gibt es in beide Richtungen: Tatsächliche Diskriminierung wird nicht erlebt oder erlebte Diskriminierung ist gar keine. Diskriminiert fühlt sich zum Beispiel nur, wer in seiner Erwartungshaltung enttäuscht wird. Rollstuhlfahrer, die keine Rampe oder keinen Aufzug erwarten, sind nicht enttäuscht, wenn es keine Rampe oder keinen Aufzug gibt. Sie fühlen sich dann auch nicht diskriminiert.

Von daher beschreibt die Studie Erfahrungen potenziell Betroffener. Sie beantwortet nicht die Frage, ob reale Diskriminierung unter- oder überschätzt wird.

Zur Person

Seit 2001 leitet Albert Scherr das Institut für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Zu seinen Arbeitschwerpunkten gehören Diskriminierung, Rassismus, Migration sowie Bildungstheorie und Jugendforschung. Bevor Scherr in Frankfurt Soziologie studierte, war er als Sozialarbeiter tätig.

tagesschau.de: Wie unterscheidet die Forschung wahrgenommene von realer Diskriminierung?

Scherr: Reale Diskriminierung lässt sich im Experiment feststellen. Will man zum Beispiel Diskriminierung in einem Einstellungsverfahren nachweisen, schickt man identische Bewerbungen an Betriebe, wo nur das Geschlecht oder die Nationalität verändert wurden. Interessant ist dann zu sehen, wann auf eine Bewerbung ein Vorstellungsgespräch folgt. Solche experimentelle Verfahren sind sehr aufwendig. Wir haben in diesem Zusammenhang unter Anderem herausgefunden, dass die Nicht-Einstellung von kopftuchtragenden Muslima eine häufige Praxis ist, die in Befragungen durch Betriebe auch offen zugegeben wird.

Nur Erfahrungen von subjektiv wahrgenommener Diskriminierung lassen sich abfragen. Der vorliegende Bericht differenziert noch einmal zwischen einer repräsentativen Befragung und einer, die sich an Betroffene richtet. Die Ergebnisse unterscheiden sich. In der repräsentativen Befragung fällt auf, dass das Alter eine große Rolle spielt. Fragt man Betroffene, klagen die vor allem über rassistische Formen von Diskriminierung.

tagesschau.de: Warum spielt das Alter in der repräsentativen Umfrage eine größere Rolle als Geschlecht, Religion oder Herkunft?

Scherr: Das hängt damit zusammen, dass in der repräsentativen Umfrage mit knapp 1.000 Teilnehmern Minderheiten naturgemäß weniger deutlich erfasst sind, als in der Befragung von Betroffenen. Das gilt für Homosexuelle, Muslime oder Menschen dunkler Hautfarbe. Dadurch verschieben sich die Ergebnisse.

Gleichwohl existiert Altersdiskriminierung. Ob jemand eine Stelle bekommt, hängt auf dem Arbeitsmarkt oft genug vom Alter des Bewerbers ab. Kaum einer neigt dazu, einen 62-jährigen Praktikanten einzustellen. Außerdem: Jeder Teilnehmer erfüllt die Voraussetzung dafür, wegen seines Alters gefragt zu werden. Frage ich wegen des weiblichen oder männlichen Geschlechts, steht mir nur jeweils etwa die Hälfte der Teilnehmer zu Verfügung.

Allerdings ist Diskriminierung wegen des Alters im Vergleich zu anderen Formen von Diskriminierung gesellschaftlich weitgehend akzeptiert.

Was wurde untersucht?

Die Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung hat zwei Erhebungen in Auftrag gegeben. Zum einen wurden rund 1000 repräsentative Personen telefonisch befragt. Zum anderen stand ein Fragebogen zu Verfügung, der über Verbände und Vereine zugänglich gemacht wurde. Mehr als 16.000 Menschen haben an der Befragung teilgenommen, mehr als 12.000 haben in solchen Fragebögen ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen geschildert.

tagesschau.de: Inwieweit ist diese Akzeptanz begründet?

Scherr: Zum einen existiert ein ganzes Bündel von Vorschriften, die Diskriminierung im Alter "salonfähig" macht. Ärzte, die nicht mehr praktizieren dürfen, Piloten, die nicht mehr fliegen dürfen. Zum anderen fehlt es an der öffentlichen Wahrnehmung von Altersdiskriminierung als Problem.

Definiert man Diskriminierung aber als eine Benachteiligung ohne sachlichen Rechtsfertigungsgrund, muss man sich auch mit der Tatsache konfrontieren, dass Alter naturgemäß mit körperlichen und psychischen Veränderungen einher geht.

tagesschau.de: Was bedeutet dieser Befund für eine Gesellschaft, in der die Älteren mehr und die Jüngeren weniger werden? Wächst dadurch das Misstrauen zwischen den Generationen?

Scherr: Nach all unseren Daten stellt sich das Generationenverhältnis bis jetzt als unproblematisch dar. Die Zukunft birgt aber erhebliches Konfliktpotenzial, wenn es um Ressourcenverteilung geht. Beispiel Wohnungsbau: Altersgerechtes Bauen erscheint lukrativer als Bauen für junge Familien, weil es mehr Mieter dafür gibt. Die älter werdende Gesellschaft muss sich also zeitnah mit den strukturellen Folgen des Alterns auseinandersetzen, um nicht ihrerseits die jüngere Generation zu diskriminieren.

tagesschau.de: Welche Form von Diskriminierung halten Sie für besonders besorgniserregend?

Scherr: Bislang wird zu wenig beachtet, wie viele Menschen sich aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Lage benachteiligt fühlen. Der Bericht der Antidiskriminierungsstelle gibt ein wichtiges Indiz. In der repräsentativen Umfrage geben immerhin zehn Prozent der Befragten an, dass sie sich aufgrund ihrer ökonomischen Lage oder aufgrund ihres Bildungsniveaus diskriminiert fühlen. Ich halte das für einen starken Wert, der dringend dazu führen muss, dass die Diskussion über Diskriminierung diese Gründe in den Fokus nimmt.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 19. April 2016 um 13:32 Uhr