Infratest-dimap-Wahlforschung "Wir machen keine Politik"
Warum auch nach 16 Jahren Merkel kaum Wechselstimmung herrscht, wer mit Themen und wer mit Köpfen punktet - und welche Rolle Umfragen vor Wahlen spielen: Infratest-dimap-Geschäftsführer Siegel im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Vor welchen ganz besonderen Problemen stehen die Meinungsforscher vor dieser Bundestagswahl?
Nico Siegel: Es gab sehr viel Bewegung bei der Sonntagsfrage, bei Union, SPD, Grünen. Wenige Tage vor der Wahl haben wir erstmals seit 2005 wieder eine Bundestagswahl, bei der offen ist, wer als stärkste politische Kraft durchs Ziel geht. Das war 2009, 2013 und 2017 nicht der Fall. Das ist für Meinungsforscher eine besondere Herausforderung.
tagesschau.de: Sind wir nach 16 Jahren Merkel solche politischen Stimmungsschwankungen nicht mehr gewohnt?
Siegel: Die Volatilität nimmt insgesamt eher zu, was unter anderem mit der abnehmenden Parteibindung der Menschen zu tun hat. Weniger Menschen als noch vor 20, 30 oder 40 Jahren sind stark gebundene Stammwähler einer Partei. Das trägt dazu bei, dass mehr Potenzial für Veränderungen vorhanden ist. Verstärkend hinzu kommt in diesem Jahr die Tatsache, dass die Amtsinhaberin, die nicht mehr antritt, ja eine zentrale Trumpfkarte der Union in den vergangenen Wahlkämpfen war. Wir haben ein neues Kandidatenfeld fürs Kanzleramt. Das hat, mit den Negativ-Pointen bei Baerbock und Laschet in diesem Wahlkampf, für zusätzliche Stimmungsschwankungen gesorgt.
Nico A. Siegel ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap. Das Institut mit Sitz in Berlin erstellt unter anderem für die ARD den DeutschlandTrend und die Prognosen und Hochrechnungen an Wahlabenden.
tagesschau.de: Weniger Parteibindung, mehr Wechselwähler - für Wahlforscher macht es die Arbeit nicht leichter ...
Siegel: Die nachlassende Parteibindung ist ein langfristiger Prozess. Damit kann die Demoskopie besser umgehen als mit unvorhergesehenen, eher schockartigen Umbrüchen. Wichtig ist, die Indikatoren sorgfältig auszuwählen. Also: Nicht nur zu fragen: "Was würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?" Sondern auch: "Welche Partei können Sie sich sonst noch vorstellen? Wie sicher ist die Entscheidung? Gibt es eine langfristige Parteibindung?" Dann lassen sich bestimmte Ergebnisse auch besser einordnen.
tagesschau.de: Wie hoch ist der Unsicherheitsfaktor durch die Unentschlossenen?
Siegel: In der aktuellen Vorwahlumfrage haben wir einen Anteil von Mitte 30 Prozent unentschlossener Wahlberechtigter gemessen. Das ist annähernd das Niveau von 2013. Durch den diesmal sehr hohen Briefwahl-Anteil ist der Anteil der Unentschlossenen kurz vor der Wahl nicht weiter gestiegen.
Mitläufer und Mitleid
tagesschau.de: Beeinflussen Meinungsforscher die Wahlentscheidung? Stichwort: Mitläufer-Effekt. Demnach möchte man am liebsten zu den Gewinnern gehören und tendiert daher zu stärksten Partei.
Siegel: Wir machen keine Politik. Und unsere Vorwahlerhebungen sind keine Prognosen. Wir stellen belastbare Informationen bereit und helfen dabei, sie einzuordnen. Dabei kann es natürlich Mitläufer-Effekte geben, ebenso wie gegenläufige Mitleids-Effekte oder taktisches Wählen, etwa Stimmensplitting. Aber die Mehrheit der Wahlberechtigten nutzt Umfragen nicht, um taktisch zu wählen, sondern sich ein Bild von der politischen Stimmung im Land zu machen. Dafür sind repräsentative Umfragen unverzichtbar. Sie stellen ein zentrales Informationsangebot in liberalen Demokratien dar.
tagesschau.de: Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni lagen einige Institute ziemlich daneben ...
Siegel: Wenn Institute, wie im Fall Sachsen-Anhalt, am Tag der Wahl oder kurz davor, das Bild eines Kopf-an-Kopf-Rennens zeichnen und die Öffentlichkeit in die Irre führen, halte ich das für sehr problematisch. Infratest dimap veröffentlicht aus gutem Grund keine Umfragen am Wahltag oder kurz zuvor. Unsere letzte Vorwahlumfrage veröffentlichen wir eineinhalb Wochen vor dem Wahltermin und machen vor allem deutlich, dass es sich nicht um eine Wahlprognose handelt.
Wirtschaftspolitik wichtig für Unions-Anhänger
tagesschau.de: Bei früheren Bundestagswahlen spielten der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Ankurbelung der Konjunktur oft eine zentrale Rolle.Welche Bedeutung haben wirtschaftliche Faktoren diesmal für die Wahlentscheidung?
Siegel: Wirtschaft und Arbeit werden wohl neben Sozialpolitik und Umwelt und Klima durchaus zu den Themen gehören, die für einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler die Wahlentscheidung mitprägen. Unter den Unions-Anhängern spielt die Wirtschaftspolitik eine größere Rolle, unter SPD-Anhängern ist es die soziale Gerechtigkeit, bei den Grünen-Wählern - wenig überraschend - Umwelt und Klima. Das Thema Arbeitslosigkeit hat im Moment aber nicht die große Bindekraft, dafür ist die Lage am Arbeitsmarkt in Deutschland viel entspannter als Ende der 1990er, zu Beginn der 2000er-Jahre.
tagesschau.de: Wie bewerten die Wahlberechtigten die eigene wirtschaftliche Situation - nach eineinhalb Jahren Pandemie? Und welche Auswirkungen hat das auf Wahlentscheidungen?
Siegel: Bei der Bundestagswahl 2017 hatten fast 80 Prozent ihre eigene wirtschaftliche Situation als gut oder sehr gut wahrgenommen. Dieser Wert ist in Folge von Corona spürbar rückläufig. Und: Es herrscht wie im Vorfeld der Wahl 2013 und 2017 große Unzufriedenheit über die Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstands.
tagesschau.de: Umverteilung ist also ein Thema, mit dem Parteien in diesem Wahlkampf punkten können?
Siegel: Die SPD setzt zum Beispiel auf den Mindestlohn von zwölf Euro, was vor allem in den ostdeutschen Bundesländern eine größere Hebelwirkung hat. Aber auch Linkspartei und Grüne sind stark auf soziale Gerechtigkeit fokussiert.
Klimaschutz kein exklusives Grünen-Thema mehr
tagesschau.de: Wie wichtig ist denn das Klimathema wirklich für die Wahlentscheidung?
Siegel: Es ist ein wichtiges Thema, die Mehrheit orientiert sich bei der Wahlentscheidung aber nicht allein entlang dieses Themas. Zumal Umwelt- und Klimaschutz kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen mehr ist. Die Grünen fokussieren ohne Zweifel am konsequentesten das Thema Umwelt und Klima. Aber auch die SPD spricht von sozial-ökologischer Erneuerung der Marktwirtschaft. Und Vertreter von Union und FDP werben in diesem Wahlkampf ebenfalls für mehr Klimaschutz. Außer der AfD gibt es keine Partei, die es sich in diesem Wahlkampf nicht auf die Fahnen geschrieben hat, künftig einem klimaverträglichen Industriestandort Deutschland den Weg zu ebnen.
Reformen sind fast immer mühsam
tagesschau.de: Mögen die Deutschen radikalen Wandel, etwa beim Klimaschutz?
Siegel: Die Wählerschaft ist unterschiedlich reformfreudig, und zwar nach Themen und Anhängerschaften. Bei Sozialstaat, Löhnen und Renten bevorzugt sie mehrheitlich Sicherheit, wenn dann überschaubare Reformschritte, keinen radikalen Politikwechsel, schon gar nicht in Richtung Rückbau des Sozialstaates. Bei Klima und Digitalisierung gibt es gerade bei den Jüngeren eine höhere Akzeptanz für weitreichende Wandel. Das politische System in Deutschland wird zurecht als "Verhandlungsdemokratie" bezeichnet. Reformen sind fast immer sehr mühsam. Sie können nur durch breite Kompromisse erzielt werden, weil wir es mit Koalitionen zu tun haben, mit Föderalismus, mit sozialpartnerschaftlichen Institutionen.
tagesschau.de: Aber nach 16 Jahren Merkel müsste es doch eigentlich den Wunsch nach etwas Neuem, nach Wandel geben ...
Siegel: In Teilen der Wählerschaft gibt es ja auch diese Wechselstimmung. Erstmals seit 1969, damals die SPD, gibt es mit den Grünen wieder eine Partei, die eine weitreichende gesellschaftliche Transformation einleiten will. Und die Grünen dürften ja auch ihr Wahlergebnis von 2017 weit übertreffen. Aber in Zeiten großer Unsicherheit ist das Bedürfnis nach Stabilität bei vielen Menschen stark ausgeprägt. So sind auch die hohen Zustimmungswerte für Olaf Scholz zu erklären: Er steht für Kompetenz, und Reformen in nachvollziehbaren Schritten.
Ost-West-Wahlunterschiede
tagesschau.de: Auch mehr als 30 Jahre nach der Deutschen Einheit wählt Ost und West immer noch sehr unterschiedlich. Warum?
Siegel: Weil die Probleme auch immer noch grundlegend anders sind. Aus manchen strukturschwachen Regionen im Osten wandern Menschen ab, die Arbeitslosigkeit ist dort höher, die Infrastruktur - auch die soziale - ist schlechter als in den prosperierenden Regionen, die zumeist im Westen sind. Solche objektiven Unterschiede, aber auch subjektive Erfahrungen prägen die Einstellung zum politischen System und zu den Parteien.
tagesschau.de: Parteien oder Personen: Welche Rolle spielen die Köpfe in diesem Wahlkampf?
Siegel: Im Wahlkampf spielen die Köpfe eine große Rolle, auch weil die Amtsinhaberin nicht mehr antritt. Bei der Wahlentscheidung sieht es bei vielen Menschen schon anders aus. Wir beobachten seit Langem, dass vor allem die Anhänger der Linken und Grünen stärker zu einer Parteien- und Themenwahl neigen. Union und SPD konnten in den vergangenen Jahren bei Landtagswahlen dann dem Abwärtstrend bei einzelnen Wahlen am ehesten entkommen, wenn sie mit überzeugenden Köpfen in Regierungsverantwortung den Wahlkampf bestreiten konnten. Ob das bei dieser Bundestagswahl auch der Fall sein wird, sehen wir dann ab Sonntagabend.
Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de