Sahra Wagenknecht
faktenfinder

Wagenknecht-Video Werbung für Impfungen?

Stand: 31.12.2021 15:08 Uhr

Mit ihren Äußerungen zu Impfungen erreicht die Linken-Politikerin Wagenknecht ein großes Publikum. In einem Video äußert sie Vorbehalte gegen mRNA-Impfstoffe, betont aber auf Anfrage, dass sie für Impfungen werben wolle.

Von Patrick Gensing, Redaktion ARD-faktenfinder

Sahra Wagenknecht ist regelmäßig zu Gast in Talkshows, tritt in Interviews von großen Medien auf und bespielt zusätzlich mit langen Videos unter anderem YouTube. Ein Anfang Dezember dort veröffentlichtes Video erreichte innerhalb weniger Tage mehr als eine Million Zugriffe. Darin spricht die Linken-Abgeordnete über die derzeit diskutierte generelle Impfpflicht - und erklärt, warum diese für sie derzeit keine Option sei.

Der Vergleich zu den Pocken

Die Linken-Politikerin schließt dabei eine Impfpflicht zwar nicht generell aus, knüpft die Diskussion darüber aber an mehrere Bedingungen, die kaum zu erfüllen sind. So sagt sie: "Wenn tatsächlich eine Impfung vor der Infektion und der Übertragung des Virus schützt, wenn eine Impfung alle davor schützt, dass sie das Virus an andere weitergeben", dann könne man das Virus massiv zurückdrängen. Bei den Pocken sei "es ja sogar gelungen, dieses Virus auszurotten", so Wagenknecht.*

Im Gegensatz zu Corona oder der Influenza gibt es bei den Pocken allerdings eine weit länger anhaltende Immunität - bei den Masern sogar eine lebenslange. Das heißt: Mit Impfungen ließen sich die Pocken sowie die Masern eliminieren. Vorbehalte gegen die Masern-Impfung und auch die Pocken-Impfungen ähnelten übrigens stark denen gegen die Corona-Vakzine.

Carsten Watzl, Professor für Immunologie der Universität Dortmund, hält das Argument für wenig stichhaltig. Denn mit einer Impfpflicht solle vor allem die Überlastung der Krankenhäuser verhindert werden. "Das Ausrotten ist bei Corona oder Influenza kaum möglich", anders als beispielsweise beim Masernvirus, wo eine dauerhafte sterile Immunität möglich sei - und die Verbreitung so gestoppt werde. "Mit der Impfung alleine werden wir Corona nicht ausrotten", so Watzl, "aber man kann schwere Erkrankungen vermeiden".

"Eine Krankheit, die alle dahinrafft"?

Wagenknecht formuliert eine weitere Bedingung für eine Impfpflicht: "Zum einen muss es sich - finde ich - um eine Krankheit handeln, die alle Teile der Gesellschaft, alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen oder zumindest in ähnlicher Weise bedroht. Jung wie Alt, Menschen mit Vorerkrankungen, Menschen ohne Vorerkrankungen, Gesunde, weniger Gesunde. Eine Krankheit, die alle dahinrafft - und wo man mit der Impfung ein Mittel hat, dieses schlimme Sterben zu beenden."

Eine Krankheit, die alle Menschen gleichermaßen "dahinrafft", ist eine hohe Hürde für eine Diskussion über eine Impfpflicht, denn das Risiko zu Versterben ist immer an individuelle Faktoren und Lebensumstände geknüpft. Immunologe Watzl sagt dazu: Insbesondere bei Infektionskrankheiten seien immer die jungen, gesunden Menschen weniger bedroht als ältere und vorerkrankte Personen.

Sendungsbild

Der Immunologe Carsten Watzl betont, die mRNA-Impfstoffe seien sehr wirksam und sicher.

"Zudem ist das Risiko von schweren Verläufen auch bei den unter 60-Jährigen nicht gleich null; das hat man in der dritten Welle gesehen, als das Durchschnittsalter der Intensivpatienten deutlich gesunken ist, da die Älteren schon geimpft waren", erklärt Watzl. "Die Jüngeren überleben zwar öfter, bleiben aber oft länger auf den Intensivstationen. Damit ist auch die gesamte Bevölkerung betroffen - wenn nämlich die medizinische Versorgung wegen überlasteter Krankenhäuser für alle nicht mehr gewährleistet ist."

Viele Millionen gehören zu Risikogruppen

Wagenknecht betont selbst, dass Covid-19 eine Krankheit sei, "die für bestimmte Risikogruppen hoch gefährlich ist. Das betrifft ältere Menschen und das betrifft Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen; starkes Übergewicht spielt da eine große Rolle, Diabetes spielt eine Rolle, Bluthochdruck. Das sind die drei, die mir bekannt sind - vielleicht gibt es noch ein paar mehr, aber es sind genau definierbare Risikofaktoren. Eigentlich in erster Linie für Bevölkerungsgruppen, die zu diesen Risikogruppen gehören, die muss man vor Corona schützen."

Diese Gruppen sind allerdings sehr groß: Mehr als 23 Millionen Menschen sind älter als 60 Jahre alt. Insgesamt sind zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen ist laut RKI stark übergewichtig - also adipös. Etwa 20 bis 30 Millionen Deutsche haben Bluthochdruck. Daher appellieren Fachleute, die Verbreitung des Virus durch Impfungen zu begrenzen - um Risikogruppen zu schützen. Wagenknecht erklärte auf Anfrage von tagesschau.de dazu, sie wolle die Risikogruppen zu Impfungen motivieren und so besser schützen.

"Wenn man dann einen Impfstoff hat ..."?

Als ein weiteres Argument gegen eine Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt führt Wagenknecht aus: "Wenn man dann einen Impfstoff hat, der sicher wirkt, dann ist das tatsächlich diskutabel zu sagen: 'Okay, wir haben jetzt kein anderes Mittel, wir wollen nicht, dass unsere Krankenhäuser hoffnungslos überlastet werden - also verpflichten wir alle'."

Es gibt allerdings Corona-Impfstoffe, die die Belastung der Krankenhäuser und das Risiko von schweren Verläufen deutlich reduzieren. Dies ist in Dutzenden Studien und Prüfverfahren sowie der Praxis nachgewiesen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wurde bereits mindestens einmal geimpft - und auch die WHO, auf die sich Wagenknecht an anderer Stelle beruft, appelliert, sich impfen zu lassen.

Mittendrin in der Freiburger Uniklinik: Ungeimpfte Schwangere auf der Intensivstation

Wie hängen Impfquote und Infektionsgeschehen zusammen?

Die Linken-Abgeordnete führt weiterhin an, die vergangenen Wochen hätten gezeigt, dass es "überhaupt keinen Zusammenhang" zwischen der Impfquote und dem Infektionsgeschehen gebe. "Übrigens inzwischen auch in den Ländern, die uns noch vor wenigen Wochen als großes Vorbild präsentiert wurden", so Wagenknecht. Im Folgenden nennt sie Portugal und "Irland - wo weit über 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft ist".

In Deutschland ist die Inzidenz in der vierten Welle allerdings dort besonders hoch, wo die Impfquote niedriger liegt - beispielsweise in Sachsen und Thüringen. International hat unter anderem Brasilien, das besonders hart betroffen war, die Situation unter Kontrolle gebracht - vor allem durch eine extrem hohe Impfquote. Präsident Jair Bolsonaro, der immer wieder Fake News zu der Pandemie verbreitete, soll sich dort für seine Desinformation verantworten.

Unterschiedliche Entwicklungen

Ob eine hohe Impfquote allein das Infektionsgeschehen - insbesondere mit hochansteckenden Varianten - eindämmen kann, erscheint aber unwahrscheinlich. So sind Infektionszahlen auch in Staaten mit hoher Impfquote im Herbst wieder gestiegen, zuletzt in Dänemark. Auch Irland weist eine relativ hohe Impfquote auf - und hat dennoch Maßnahmen verschärft. Die Vergleiche zwischen den Staaten sind schwierig; mutmaßlich spielen viele verschiedene Faktoren eine Rolle für das jeweilige Infektionsgeschehen - Altersstruktur, Gesundheitsversorgung, Jahreszeit, Testungen, Einschränkungen und weitere.

Obwohl aber der Anteil der Ungeimpften an der erwachsenen Bevölkerung beispielsweise in Irland sehr niedrig ist, sind viele der Covid-Patienten Ungeimpfte. Je jünger die Erkrankten sind, umso höher ist der Anteil der Ungeimpften auf den Intensivstationen. Bei den Unter-50-Jährigen sollen es rund 80 Prozent sein.

Ähnliche Zahlen gibt es unter anderem aus Österreich. Auch Zahlen aus Deutschland zeigen, dass der Anteil der Ungeimpften an den Covid-19-Intensivpatienten überproportional hoch ist.

Viele freiwillig ungeimpfte Covid-Patienten liegen auf Intensivstationen

Melissa Faust, WDR, Morgenmagazin

Diskussion um Totimpfstoffe

Wagenknecht streitet in ihrem Video nicht die Gefahr insbesondere für ältere Menschen ab: In diesen Jahrgängen sei es "tatsächlich ein großes Risiko, wenn man sich nicht impfen lässt. Das kann man nicht leugnen, und jemand, der sich da nicht impfen lässt, läuft Gefahr, tatsächlich auch schwere Krankheitsverläufe zu haben -  vor allem, wenn er insgesamt auch gesundheitlich vielleicht etwas angeschlagen ist". Sie sagt, viele Menschen hätten ihr geschrieben, sie würden sich impfen lassen, wenn man "denn endlich einen klassischen, einen traditionellen Impfstoff hätte". Sie verweist dabei auf von der WHO empfohlene Impfstoffe beispielsweise aus China.

Im Juni hatte die WHO den Notfalleinsatz des chinesischen Impfstoffs Sinovac empfohlen. Allerdings liegt die Schutzwirkung vor Infektionen demnach unter dem von mRNA-Impfstoffen. So schrieb die WHO:

Die Ergebnisse der Wirksamkeit des Impfstoffs zeigten, dass der Impfstoff bei 51 Prozent der Geimpften eine symptomatische Erkrankung verhinderte und bei 100 Prozent der untersuchten Population eine schwere COVID-19-Erkrankung und einen Krankenhausaufenthalt verhinderte.

Auf Nachfrage erklärt Wagenknecht, Studien hätten mittlerweile gezeigt, die Wirkung der Impfstoffe seien aber besser. Welche Studien das seien, führte sie nicht aus.

Der Immunologe Watzl erklärt, die Totimpfstoffe funktionieren zwar auch - aber nicht so gut. "Natürlich ist es besser, diese Impfstoffe zu benutzen als sich gar nicht zu schützen", sagt der Professor, "aber die mRNA-Impfstoffe wirken deutlich besser", so seine Einschätzung. Wagenknecht betont, die Totimpfstoffe könnten helfen, skeptische Menschen von einer Impfung zu überzeugen. Die EMA prüft bereits seit Mai die Zulassung von Sinovac. Der US-Pharmakonzern Novavax hat im November für seinen Impfstoff eine EU-Marktzulassung beantragt.

mRNA-Impfstoffe als "Glücksfall"

Gegen die - von der WHO ebenfalls empfohlenen - mRNA-Impfstoffe hat Wagenknecht offenbar Vorbehalte. So sagt sie, Impfstoffe, die "wir hier in Europa verwenden", basierten auf einem "völlig neuartigen gen-basierten Verfahren". Die mRNA-Technologie wird allerdings bereits seit Jahren erforscht, vor allem für Krebstherapien. Fachleute meinen, die derzeitige intensive Forschung an den Impfstoffen eröffne vollkommen neue Möglichkeiten - insbesondere beim Kampf gegen Krebs.

Bei den mRNA-Impfstoffen gebe es "Vorarbeiten seit 20 bis 30 Jahren, da hatten wir Glück, dass wir diese nun anwenden konnten", sagt Immunologe Watzl. "Man wusste bereits, wie effiziente Impfstoffe entwickelt werden können.  Es war relativ leicht, diese für Corona anzupassen."

"Gar nicht so wenige schwerwiegende Nebenwirkungen"?

Weiterhin behauptet Wagenknecht, die Impfstoffe zeigten "gar nicht so wenige schwerwiegende Nebenwirkungen". Welche das sein sollen, führt sie nicht aus. Auf Anfrage verwies sie auf die Auflistung bei der EMA oder auch bei der WHO. Diese stufen die Impfstoffe allerdings als sicher ein.

Ein einzelner Satz aus dem Impfbuch

Wagenkecht sagt zudem, "natürlich" könne man bei einer Impfung, die erst seit ein paar Monaten verabreicht werde, "noch nicht wissen, ob und welche Spätfolgen nach ein paar Jahren auftauchen". Vielleicht keine, so Wagenknecht, "vielleicht aber auch welche, die durchaus nicht erfreulich sind".

Auf Nachfrage verweist Wagenknecht auf ein RKI-Impfbuch, in dem der Satz "natürlich kann man bei einer Impfung, die erst seit ein paar Monaten verabreicht wird, noch nicht wissen, ob und welche Spätfolgen nach ein paar Jahren auftauchen" steht. Was sie allerdings nicht erwähnt: Nach diesem Satz steht in dem Buch, dass die Erfahrungen mit vielen Impfstoffen über viele Jahre gezeigt hätten, dass die meisten schädlichen Auswirkungen einer Impfung bereits kurze Zeit nach der Impfung auftreten. Es gebe zwar Ausnahmen:

So kann es beispielsweise nach einigen Impfungen, unter anderem gegen Grippe und HPV, in sehr seltenen Fällen zu einer Nervenerkrankung namens Guillain-Barré-Syndrom kommen. Diese Krankheit kann allerdings auch auftreten, wenn man eine jener Infektionen erleidet, gegen die die Impfung schützen soll.

Genau diese Risikoabwägung wird bei der Zulassung und Empfehlung von Impfstoffen und Medikamenten vorgenommen. Würde es diese fachliche Abwägung nicht geben, könnte man Medikamente oder Impfstoffe generell erst nach vielen Jahren zulassen. Wie lange Impfstoffe beobachtet werden müssten, bis sie aus ihrer Sicht als sicher gelten, beantwortete Wagenknecht auf Nachfrage nicht.

Praktisch kaum erfüllbare Bedingungen

Wagenknecht betont, nicht generell gegen eine Impfpflicht zu sein, formuliert aber praktisch kaum erfüllbare Bedingungen dafür. Einige Behauptungen zur Sicherheit der Impfstoffe sind fragwürdig. Selektiv beruft sich Wagenknecht auf die WHO, lässt aber andere Empfehlungen und Einschätzungen der Weltgesundheitsorganisation unerwähnt.

Immunologe Watzl sieht in den Ausführungen eine zweistufige Strategie: Zunächst führe sie an, die Impfpflicht sei nicht gerechtfertigt, denn die Impfstoffe seien nicht perfekt. "Dazu werden noch Zweifel an der Sicherheit der Impfstoffe gestreut - obwohl belegt ist, dass diese sicher sind."  Die Impfungen hätten zwar Nebenwirkungen, sagt Watzl  - doch das Risiko durch Corona-Infektionen sei um ein vielfaches höher.

Wagenknecht selbst sagte auf Anfrage, sie "werbe dafür, dass sich ältere Menschen und Risikogruppen impfen lassen". Deshalb sei "es jetzt viel wichtiger, Älteren einen schnellen Zugang zu Booster-Impfungen zu ermöglichen, statt gesunde Teenager durch Druck in die Impfpraxen zu treiben".

*Anmerkung der Redaktion: Ein Zitat aus dem Video war falsch zugeordnet, wir haben das korrigiert und den Abschnitt um ein Zitat von Frau Wagenknecht ergänzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 06. Dezember 2021 um 22:45 Uhr.