Impfungen und Übersterblichkeit Statistik mit fragwürdigen Methoden
Ein in sozialen Medien verbreitetes Papier soll zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Impfquote gebe. Einer Überprüfung hält diese Behauptung jedoch nicht stand - was auch die Autoren so sehen.
"Je höher die Impfquote, desto höher die Übersterblichkeit", so lautet der Titel eines Papiers, das die thüringische Landtagsabgeordnete Ute Bergner der Landesgesundheitsministerin Heike Werner überreichte. "Mein eindringlicher Appell an Sie: Hören Sie auf, auf ungeimpfte Druck auszuüben! Überlassen Sie den mündigen Bürgern von Thüringen die Entscheidung, ob sie sich impfen lassen wollen oder nicht", erklärte Bergner dazu.
Seitdem wird das Papier massiv auf den sozialen Medien beworben, unter anderem auch von dem Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen.
Destatis sieht methodische Fehler
Verfasst wurde es von den beiden Psychologen Rolf Steyer und Gregor Kappler, die dafür die Zahlen des Robert Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamts (Destatis) ausgewertet hatten.
Das Statistische Bundesamt kann die Interpretation des Papiers jedoch nicht bestätigen. "Dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen Impfquote und Übersterblichkeit gibt, kann man schon aus der Grafik ersehen, die die Forscher erstellt haben", erklärt Felix zur Nieden, Experte für Demografie und Sterbefallzahlen bei der Behörde, gegenüber dem ARD-faktenfinder.
Die von den Autoren errechnete Korrelation von +0,31 ist zudem nicht "erstaunlich hoch", wie von den Autoren behauptet, sondern ein eher moderater Wert. "Korrelationen sind außerdem empfindlich gegenüber 'Ausreißern': Das Hinzufügen oder Weglassen weniger Datenpunkte kann schon ein komplett anderes Resultat ergeben." Das Gewichten der Werte nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Bundesländer sorge außerdem dafür, dass das Ergebnis von wenigen bevölkerungsreichen Bundesländern und damit von sehr wenigen Datenpunkten abhängt.
Zudem wäre die Ermittlung einer Korrelation nur ein erster Anhaltspunkt, erklärt zur Nieden. Diese müsse weitere Untersuchungen nach sich ziehen, ob es einen tatsächlichen direkten oder indirekten kausalen Zusammenhang gebe - eine Aussage, der auch die Autoren zustimmen, ohne bisher jedoch diesen Schritt zu gehen.
Viele wichtige Faktoren ausgeblendet
Weiterhin sei die Auswahl des Untersuchungszeitraums von gerade einmal fünf Wochen problematisch, zumal es sich um eine Phase handelt, in der es vergleichsweise wenige Corona-Infektionsfälle gab. Der zeitliche Zusammenhang und Abstand zwischen Impfquote und Immunität wurde in der Untersuchung komplett ausgeblendet, ebenso Effekte wie das Mortality Displacement und das unterschiedliche Infektionsgeschehen in den einzelnen Bundesländern.
Mortality Displacement (Sterblichkeitsverdrängung oder -verschiebung) beschreibt das Phänomen, das auf eine Phase mit übermäßigen Todesfällen eine mit geringeren Mortalitätsrate folgt. Sie wird zum Beispiel durch Hitzewellen, Pandemien, Naturkatastrophen und Kriege ausgelöst, bei denen Menschen vorzeitig sterben, die sonst länger gelebt hätten. Eine solche Verschiebung der Sterblichkeitsrate wird auch als "Ernteeffekt" bezeichnet.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, warum die Forscher annehmen, dass ausschließlich Impfungen die Ursache für die in der Übersterblichkeit erfassten Todesfälle seien. So geht das Paul-Ehrlich-Institut davon aus, dass es seit Beginn der Impfkampagne bis September in nur 48 Fällen möglich oder wahrscheinlich ist, dass der Tod tatsächlich auf die Impfung zurückzuführen ist.
Zur Niedens Fazit zu dem Papier fällt dementsprechend harsch aus: "Das ist keine seriöse Auswertung, mit der man an die Öffentlichkeit geht."
Autoren distanzieren sich von Interpretation
Letzteres scheinen auch die Autoren so zu sehen: "Am 16. November haben wir für die Abgeordnete des Thüringer Landtags, Frau Dr. Ute Bergner, eine kurze Notiz verfasst. Der Anlass war eine Aktuelle Stunde des Landtags zur Corona-Maßnahmenpolitik", erklären sie. Der Bericht sei ausschließlich für diesen Zweck bestimmt gewesen und sollte Anlass für weitere Diskussionen und Analysen sein.
"Die Verbreitung und Weitergabe der Notiz im Internet und den sozialen Medien haben wir nicht autorisiert oder sie gar veranlasst. Zur Klarstellung: Es handelt sich bei der Notiz weder um eine wissenschaftliche Publikation noch um eine fundierte wissenschaftliche Studie, die unseren eigenen Qualitätsstandards genügt", heißt es weiter.
Kein Beweis für Zusammenhang
Die Notiz beweise keineswegs, dass eine erhöhte Impfquote zu einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit führe, erklärt Mitautor Steyer gegenüber dem ARD-faktenfinder. "Wir möchten auch nicht, dass sie dahingehend fehlinterpretiert wird". Die Autoren bedauerten aber inzwischen die Wahl mancher Worte und auch der Überschrift. "In der Öffentlichkeit wurde und wird sie offenbar völlig falsch (weil kausal) verstanden".
"Meines Wissens haben wir selbst keinerlei Schlussfolgerungen gezogen", so Steyer weiter. Unter Hinzunahme der jetzt verfügbaren Daten sei die positive Korrelation übriges nahezu gleich null. Die Impfung als Todesursache sei nur eine von vielen denkbaren Hypothesen - mehrere davon könnten richtig sein, aber: "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Sterbefälle nach Impfung sorgfältig auf ihre Ursachen untersucht werden. Zumindest legen mir das berichtete Einzelfälle nahe."